Ein Schultag wie vor 120 Jahren – das Schulmuseum Zetel

von Michelle Steinmetz

Schreibfedern, Wandbilder und Holzbänke: Vor 120 Jahren sah der Schulalltag noch längst nicht so modern und technisch wie heute aus. In dem kleinen Ort Bohlenbergerfeld am Rande Zetels in Friesland befindet sich eine dieser Schulen, die vor vielen Jahren etliche Schüler:innen auf ihrem Lebensweg begleitete – und heute ein Schulmuseum ist.

Museumsleiterin Heike Ahlborn erzählt, welche Bedeutung die kleine Volksschule am Ortsrand für die Kinder hatte: „Grund war eigentlich damals, dass durch die Urbarmachung des Landes drumherum, durch die Erfindung des Kunstdüngers, hier überhaupt signifikant Landwirtschaft entstand. Auch wirklich fruchtbare Landwirtschaft und sich dadurch viele Kleinbauern, Tagelöhner und so weiter ansiedelten. Diese Menschen hatten Kinder. Und eben nicht nur ein oder zwei Kinder, sondern vier, fünf, sechs, sieben oder acht Kinder.“

Die Volksschule bestand zu der Zeit um 1900 aus einem Klassenzimmer, das sich noch heute im originalen Zustand in dem Gebäude befindet. Erste, zweite, dritte und vierte Klasse wurden gemeinsam unterrichtet.  „Wer kein Platz fand, saß auf dem Fußboden”, erklärt Ahlborn. „Schule gab es damals bis zur Klasse 8. Wer dann konfirmiert war, hatte die Schulpflicht hinter sich. Und nur wenn die Eltern es sich leisten konnten, konnte man weiter zur Schule gehen, weil Schulgeld gezahlt werden musste.”

Mit dem allgemeinen Rückgang der Schulen Frieslands in den 70er Jahren musste auch die Volksschule in Bohlenbergerfeld schließen. „Dieser Rückbau der Schulen in der Fläche wurde beaufsichtigt von einem Lehrer hier in Zetel, einem Herr Wacker. Und dem tat es in der Seele weh, zu sehen, was hier für Möbel, Inventargut, Schriftgut und Bücher praktisch in den Müll geschmissen wurden, so dass er den Bürgermeister in Jeringhafe gefragt hat, ob man all das Inventar der alten Schulen hierher  nach Bohlenbergerfeld bringen könnte”, erzählt Ahlborn. 

So entstand das Schulmuseum Zetel, das heute als ältestes Schulmuseum Deutschlands gilt und mit einer großen Sammlung an unikaten Objekten eine Zeitreise in die alte Schule ermöglicht.

Foto: Michelle Steinmetz

„Mit einer signifikanten Sammlung in Richtung Bücher. Da haben wir etwa 28.000. Wir haben 5.000 Schulwandbilder, 500 Landkarten und, ich würde sagen, bewegliches Inventar gut 2.000 Stücke. Dann kommen dazu noch Lichtbildplatten, Filme, Dias und so weiter.“

Kalte Holzbänke und kratzende Schreibfedern

Das Herzstück des Museums ist das original erhaltene Klassenzimmer von 1910. „Wie man das sieht, ganz klassisch: Die Schulbänke, also das Pult und die Sitzbank, sind miteinander verbunden. Kleine Bänke für die Schüler der ersten und zweiten Klasse, die eben noch mit Griffel und Schiefertafel schrieben. Und die anderen für die Kinder, die schon mit Feder und Tinte schreiben konnten”, erklärt Ahlborn. Bunte Farben und warme Heizungen gibt es nicht. 

Doch nicht nur der optische Aspekt ist mit dem Unterricht von heute nicht mehr zu vergleichen. Auch die Atmosphäre im Schulalltag war eine ganz andere: „Der Lehrer lief früher nicht von Gruppenarbeit zu Gruppenarbeit durch die Klasse. Oder wenn er lief, dann eben auch um zu bestrafen.”

Für die Kinder der heutigen Zeit wäre ein Unterricht dieser Art kaum noch vorstellbar und diesen Eindruck vermitteln die jungen Menschen auch, wenn sie das erste Mal einen Besuch im Schulmuseum Zetel machen. „Bei den Kindern ist das eher so, dass sie das mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen angucken, weil das für sie fernab ihrer schulischen Realität ist. Es ist nicht bunt, es ist nicht hell, es ist eng”, erklärt Ahlborn.

Doch für ältere Generationen ist der Besuch im Schulmuseum Zetel eine Zeitreise einer besonderen Art: „Bei den Erwachsenen weckt schon der Geruch den alten Klassenraum. Eben auch dieses Leinöl, mit dem wir hier die Bänke fertig machen, und die Böden. Es riecht praktisch nach einem alten Schulraum. Also je nachdem, wer das Klientel ist, sind die Emotionen ganz unterschiedlich”, beschreibt Ahlborn.

Der Weg der Bestrafung zur Förderung

Weist der Unterricht von vor 120 Jahren noch in irgendeiner Weise Ähnlichkeiten mit dem Schulalltag von heute auf? – Auch heute dient die Schule dazu, den Kindern Wissen und Erfahrungen zu vermitteln, doch Ahlborn differenziert ganz klar: „Es ging damals ausschließlich um die Vermittlung von Wissen. Schule vor 120 Jahren ist mit Schule heute in meinen Augen in keiner Form mehr zu vergleichen.”

Bereits der Weg zur Schule ist mit den Bussen oder fahrenden Eltern der heutigen Zeit nicht zu vergleichen. „Die Kinder mussten früher oft drei Kilometer bis zu ihrer Schule laufen, und das bei jedem Wetter und bei jeder Jahreszeit”, erklärt Ahlborn. Auch Lehrmaterialien, wie Bücher oder Schulhefte, stellten für die Kinder der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit dar, sondern galten als Besonderheit für Kinder, die aus einer eher wohlhabenderen Familie stammten.

So sieht ein Tag als Schüler:in 1910 aus:

Der Unterricht selbst baute auf Druck und Gewalt auf, in dem die Schüler:innen sich weiterentwickeln und bilden sollten. Anders als heute galten die schwächeren Schüler:innen vielmehr als Problem, als dass man sie in ihrem Schulalltag gefördert hätte.

„Lernen soll heute nicht mehr mit Druck und Angst verbunden sein. Auch der Schwächere soll, wenn möglich, gefördert werden. Vor 120 Jahren wäre dieser Schüler untergegangen. Dafür, dass er oder sie etwas nicht konnte, gab es Schläge und kein Verständnis”, erklärt Ahlborn.

Parallelen zur heutigen Zeit gibt es nicht, doch: „Genau das macht es natürlich auch so spannend für Kinder, weil sie dann natürlich mit großem Erstaunen sehen, was sich da alles verändert hat – zu den Gunsten der Kinder.”

Bilder sagen mehr als Worte

Nicht jedes Kind hatte also vor 120 Jahren Bücher oder Schulhefte zur Verfügung – doch wie gestaltete sich dann der Unterricht, in dem die Kinder etwas lernen sollten? In der Zeit um 1900 spielten Schulwandbilder eine wichtige Rolle.

Sie existieren bereits seit 1860 und wurden, mit der Möglichkeit der Vervielfältigung, immer wichtiger im Schulalltag.

„Man muss sich vorstellen, man hat hier eine Landschule mitten im Landkreis Friesland und möchte diesen Kindern etwas über Martin Luther erklären”, beschreibt Ahlborn.

„Diese Kinder haben aber noch nie einen Mönch gesehen – nie. Die wissen überhaupt nicht, was ein Mönch ist. Das heißt, die Lehrer brauchten etwas, mit dem sie einem Kind mit diesem Erlebnishorizont einer Landschule in Friesland erklären konnten, wie ein Mönch aussieht. Wie macht man das? Mit einem Bild.”

Foto: Michelle Steinmetz

 

Die rund 5.000 Wandbilder des Schulmuseums Zetel zeigen verschiedene Inhalte aus fünf Kernbereichen. Dazu zählen die Bereiche Märchen, Religion, Erdkunde, Geschichte und Biologie. „Es ist sehr schade, dass diese Bilder dann Anfang der 70er Jahre ausgedient hatten”, sagt Ahlborn. Mit der Digitalisierung entwickelten sich auch neue Arten der Wissensvermittlung. 

„Das Lernen kann sich immer neu erfinden”

Laptops, Whiteboards und digitale Stundenpläne – der heutige Schultag ist geprägt von der Digitalisierung. Doch wie könnte der Unterricht in weiteren 100 Jahren aussehen?

„Ich stelle mir den Unterricht in 50 oder 60 Jahren so vor, dass jedes Kind einen Laptop hat oder ein iPad oder irgendwie sowas – auch der Lehrer. Nichts mit Kreide, sondern alles über eine Whiteboard”, beschreibt Ahlborn ihre Zukunftsvorstellungen.

Es ist sicher, dass der Schultag in der Zukunft immer moderner und digitaler ist, doch: „Ob das nun schlechter oder besser ist, lass ich mal so dahingestellt, weil ich immer noch glaube, dass Lernen und vor allem gerne Lernen auch viel mit eigenem Erleben zu tun hat”, erklärt Ahlborn.

Kinder nehmen Erfolgserlebnisse intensiv über ihre Sinne wahr und prägen damit ihr zukünftiges Leben. Ob technische Geräte und der digitale Alltag diese Sinneswahrnehmung genauso fördert, bleibt offen, so Ahlborn: „Doch das Lernen kann sich immer neu erfinden, daher ist die Zukunft offen. Lehrer sein ist eben mehr als nur Wissen vermitteln.”

Autor*in: