Wenn Infektionskrankheiten auf Reise gehen
Ob Pauschal- oder Individualtourismus, Reisen und „die Welt erkunden“ gehört in unserer Gesellschaft dazu. Die globalisierte Welt bietet dafür viele Vorteile. Wir können in fast jedes Land reisen und uns von anderen Kulturen inspirieren lassen. Doch die weltweite Vernetzung zeigt auch Nachteile und kann uns krank machen, wie wir zurzeit deutlich und eindringlicher denn je zu spüren bekommen.
SARS-CoV, Vogel- oder Schweinegrippe, MERS-CoV, Ebolafieber, Virusgrippe 2017/2018 und nun COVID-19: Im Verlauf der letzten 20 Jahre kam es immer wieder zum Ausbruch neuartiger Infektionskrankheiten und häufig zu einer weltweiten Ausbreitung.
Infektionskrankheiten und ihre Verbreitung
Gerade in der aktuellen Zeit stellen sich viele Touristen die Frage, inwieweit zukünftig Reisen in dem bisher gewohnten Umfang noch möglich sein wird und ob und inwiefern das gewohnte Reiseverhalten zur Ausbreitung solcher Infektionskrankheiten beiträgt. Neben der globalen Mobilität und einer Anzahl von 46,8 Millionen Flügen jährlich (IATA 2019) spielen bei der Ausbreitung auch die wachsende Weltbevölkerung und dicht besiedelte Ballungszentren eine Rolle.
Dieses stellt Dirk Brockmann bereits 2016 in seinem Artikel „Dynamik und Ausbreitung von Infektionskrankheiten in einer globalisierten, vernetzten Welt“ fest. Brockmann, der an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt und am Robert-Koch-Institut forscht, schreibt darin, dass sich Infektionskrankheiten heute rapide und global ausbreiten.
Epidemien gab es schon immer, geändert hätte sich heute jedoch besonders die Ausbreitungsgeschwindigkeit. Vier Jahre benötigte die Pest im 14. Jahrhundert, um sich über den europäischen Kontinent auszubreiten. Heute braucht das neuartige Coronavirus nur drei Monate, um über 1,8 Millionen Menschen in über 180 Ländern zu infizieren. Verbreiteten sich früher Epidemien aufgrund der großen Entfernungen und räumlichen Verteilungen langsam, aber konstant, können sich Erreger heute schnell auch über große Distanzen ausbreiten, wodurch Ankunftszeit und Importwahrscheinlichkeiten schwerer vorherzusagen sind – auch für hochmoderne Computersimulationen. Denn die benötigen Faktoren wie Infektionsraten, Übertragungswege und Infektionsdauer.
Die „effektive Distanz“
Die von Dirk Brockmann und seinem Kollegen Dirk Heling von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich 2013 entwickelte Theorie der „effektiven Distanz“ benötigt diese Faktoren nicht, um den Ursprungsort einer Seuche zurückzuverfolgen und Ausbreitungswege vorhersagen zu können. Die Theorie verwendet keine geografischen Entfernungen, sondern ein „effektives Entfernungsmaß“. Demnach sind stark verknüpfte Orte oder Regionen, z.B. Flughäfen, effektiv näher am Infektionsursprung, als schwach verknüpfte.
Die „effektive Distanz“ ist eine Vorhersagemethode für die Ankunftszeit einer Epidemie. Wenn man die anfängliche Ausbreitungsgeschwindigkeit in effektiver Distanz kennt, kann die erwartete Ankunftszeit direkt abgelesen werden. In der aktuellen Coronakrise war daher abzusehen, dass beispielsweise Städte mit stark frequentierten Flughäfen nach diesem Modell effektiv näher am Ursprungsort sein werden und die Infektion schneller ankommen würde.
Ein Blick in die Zukunft
Wie sich die Situation des weltweiten Tourismus nach der überstandenen Krise verändern wird, ist schwer vorherzusagen. An der Verbreitung von Infektionen und der Ausbreitungsgeschwindigkeit wird sich sicher wenig ändern. Die weltweite Vernetzung und das Flugverkehrsnetz werden bestehen bleiben, da damit auch wichtige Transportwege bedient werden. Durch das von Brockmann und Helbing erstellte Modell könnten die Verantwortlichen in den Ländern mit Flughafendrehkreuzen und „Touristenmagneten“ besser darauf vorbereitet sein, weil sie die Ankunftszeit von Epidemien genauer vorhersagen könnten.
Eine der Fragen, die diese Krise nicht nur bei Touristen hinterlassen wird: Werden Knotenpunkte und Touristenmagnete bleiben? Bewegen wir uns wieder mehr Richtung Individualtourismus? Also, weg von riesigen Flughafendrehkreuzen, überfüllten Stränden, Skigebieten, „Bettenburgen“ und überlaufenen Sehenswürdigkeiten? Denn zwar kann dort sicher die Ankunftszeit der Infektionen vorausgesagt werden, aber vor allem begünstigen diese Orte eine schnelle und unkontrollierbare Ausbreitung von Epidemien und natürlich auch eine hohe Ansteckungsgefahr.