von Sabrina Holthaus, Lea Klinge und Klara Wildförster
aus dem Modul "Schwerpunkt Datenjournalismus"
Gähnende Leere auf den roten Sesseln: Wer nach längerer Zeit wieder ins Kino geht, dem bietet sich dieses Bild. Liegt es an den immer teurer werdenden Ticket- und Snackpreisen, dass die Kinosäle weniger gut gefüllt sind? Oder sorgen die Streamingdienste wie Netflix, Disney+ und Co. dafür, dass wir die Blockbuster lieber vom heimischen Sofa aus genießen?
Nicht nur die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Schließungen der Kinos und Multiplexe sind für die Rezession der Kino-Branche verantwortlich. Die Kinos haben laut Filmförderungsanstalt im Jahr 2017 circa eine Milliarde Euro Umsatz erzielt, während die Streaming-Branche lediglich die Hälfte mit 488 Millionen Euro verzeichneten. Dennoch ist ein klarer Trend erkennbar. Im selben Jahr stiegen die Einnahmen der Streaming-Videos, die man on demand („auf Abruf“) ansehen kann, um 162 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr. Zwar verzeichneten die Kinos auch einen Anstieg, dieser belief sich aber lediglich auf 32 Millionen Euro.
Laut Medienforschenden von PricewaterhouseCoopers (PwC) ist diese Entwicklung eindeutig auf die Corona-Pandemie zurückzuführen. Denn der digitale Teil der Märkte scheint sich schneller zu erholen als der physische, was sich angesichts Hygienebeschränkungen und anhaltender Bedenken der Besucher*innen erklären ließe. Dementsprechend konnte das Kino „trotz deutlicher Aufholeffekte nicht an die Umsatzzahlen von 2019 anknüpfen“, wie PwC in seinem Vorbericht zum German Entertainment & Media Outlook von diesem Jahr schreibt.
Die Streamingdienste sind jedoch nicht die erste Herausforderung, denen sich das Kino stellen muss. Schon in den 50er- und 60er-Jahren als private Fernseher immer beliebter wurden, stellte sich die Frage ob Leute noch ins Kino gehen möchten. In den 70er-Jahren kamen mit der VHS-Kassette (Video Home System) beliebte Kinofilme direkt nach Hause. Der Home-Video-Markt vergrößerte sich und erreichte mit der DVD in den Jahren 2004 bis 2009 seinen Höhepunkt. Rund 1,3 Milliarden Euro wurden im Jahr 2004 mit dem Verkauf von DVDs in Deutschland umgesetzt. Das fand eine von der Filmförderungsantal heraus. Auch in den folgenden Jahren hielt sich dieser Trend konstant, erst nach 2009 (1,26 Milliarden Euro Umsatz) ebbten die Verkaufszahlen ab. Allerdings waren die Preise für DVDs zu Beginn noch sehr hoch – im Jahr 2002 kostete eine einzelne DVD noch 20 Euro. Erst als die Preise sanken und die DVDs somit erschwinglicher wurden, stiegen auch die Verkaufszahlen an. Ab 2009 pendelte sich der Preis für eine DVD zwischen elf und zwölf Euro ein und ist heute noch üblich.
Die Streamingdienste erschlossen ab dem Jahr 2014 den deutschen Markt; Netflix und Amazon Prime Video waren die ersten, Disney+ folgte 2020 mitten in der Corona-Pandemie. Deutschlandweit nutzten im Jahr 2021 52 Prozent der Haushalte mit einer Internetverbindung den Dienst Amazon Prime Video, Netflix nutzten 49 Prozent und auch Disney+ kam trotz der Einführung vor zwei Jahren schon auf 22 Prozent.
International befindet sich Disney+ auf dem Vormarsch, das mit 5,2 Milliarden US-Dollar (USD) im vergangenen Jahr eine Umsatzsteigerung von 85 Prozent erzielen konnte. Mittlerweile nutzen rund 130 Millionen Menschen weltweit diesen Streamingdienst. Netflix hingegen kämpft seit drei Jahren mit stagnierenden Umsatz- und Nutzerzahlen. Im Jahr 2021 erzielten sie weltweit einen Erlös von 192,9 Millionen USD, in diesem Jahr waren es Stand April rund 221,64 Millionen USD. Im März 2021 erreichte der Streamingdienst nach eigenen Aussagen 100 Millionen Abonnenten. Amazon-Firmengründer Jeff Bezos sprach bei der Quartalsvorstellung im April 2021 von 170 Millionen Nutzern seines Amazon Prime Video-Streamingdienstes und einem Nutzerzuwachs von 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Entscheidung für das Abonnement lässt sich nicht eindeutig auf den Streamingdienst zurückführen, denn der Streamingdienst gehört zum Portfolio von Amazon Prime, welches andere Vorteile im Bereich Lieferung oder Musik anbietet.
Auch die pandemiebedingten Lockdowns führten zu einem Anstieg der Streaming-Abonnenten, auch wenn sich nicht einwandfrei anhand der Zahlen belegen lässt, dass die Pandemie für einen stärkeren Anstieg gesorgt hat. Denn während die prozentualen Markteinteile auf dem gesamten Entertainment-Markt bei den Kinos im Jahr 2020 und 2021 auf verschwindend geringe zwei bzw. drei Prozent sanken, hielt sich der Marktanteil von Home-Video bei stabilen 19 bzw. 20 Prozent. Allerdings stellte die Filmförderungsanstalt bei den Streamingdiensten im Vergleich zwischen dem ersten und zweiten Pandemiejahr einen Anstieg von 12 Prozent, bzw. rund 500 Millionen Euro fest.
Insgesamt ist also doch ein klarer Trend erkennbar: Die Streamingdienste werden nicht nur populärer, sondern gewinnen auch wirtschaftlich an immer mehr Bedeutsamkeit auf dem (deutschen) Entertainment-Markt.
Die Filmförderungsanstalt veröffentlicht jedes Jahr eine Studie zum Home-Video-Markt. Diese Zahlen zeigen, wie sich der Filmmarkt über die letzten Jahre entwickelt hat. Für einen guten Überblick werden die Zahlen von 2012 bis 2021 betrachtet.
Doch warum werden Kinos tendenziell weniger oft besucht als Streamingdienste abonniert? Ein möglicher Grund könnten die Zeitspanne zwischen der Kino-Premiere eines Films und der Verfügbarkeit für private Haushalte sein. Besonders diese Abstände haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verkürzt.
Ein gutes Beispiel dafür sind die jeweils ersten Filme der drei Star Wars-Trilogien. Der erste Star Wars Film „Episode IV – Eine neue Hoffnung“ erschien in Deutschland neun Monate nach der US-Premiere im Februar 1978. Für private Haushalte war der Film erst 1982 – also fünf Jahre nach der US-Premiere – auf VHS verfügbar. „Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung“ konnten die deutschen Fans drei Monate nach der US-Premiere am 19. August 1999 im Kino sehen. Auf VHS war der Film bereits ein Jahr später erhältlich. Noch schneller ging es mit dem siebten Teil: „Star Wars: das Erwachen der Macht“ kam im Dezember 2015, nur drei Tage nach US-Premiere, in die deutschen Kinos. Ab April 2016 konnte der Film bereits auf DVD und als digitaler Download gekauft werden, also nur vier Monate nach der Premiere.
Die immer schnellere Verfügbarkeit von Blockbustern für private Haushalte könnte ein Grund für den Besucherrückgang der Kinos sein. Denn wer bereits mehrere Streamingdienste abonniert hat, scheint eher bereit zu sein auf einen Film zu warten. Nur vereinzelte Film-Highlights ziehen die Zuschauer noch in die Kinos. Denn die Kosten für ein Kinoticket sind in den vergangenen Jahren ebenfalls gestiegen. Es ist naheliegend, dass die Nutzer unter diesen Umständen das Heimkino bevorzugen.
Im Jahr 2017 lag der durchschnittliche Ticketpreis bei 8,63 Euro und 2021 bei 8,87 Euro. Allerdings wird dieser Preis für ein einziges Ticket bei einem Kinobesuch bezahlt. Wer jetzt mit der ganzen Familie ins Kino geht und außerdem Snacks und Getränke kauft, muss tiefer in die Tasche greifen. Außerdem prognostiziert der „German Media & Entertainment Outlook“ von PricewaterhouseCooper (PwC) einen Anstieg der durchschnittlichen Ticketpreise auf über 9 Euro ab dem Jahr 2025.
Die aus unserer eigenen Berechnung entstandenen, durchschnittlichen Monatspreise für ein Abonnement eines Streamingdiensts haben wir mit den durchschnittlichen Kinoeintrittspreis verglichen. Für einen guten Überblick haben wir die betrachtete Zeitspanne von 2012 bis 2021 festgelegt.
Bei den Streamingdiensten hingegen sieht es anders aus: Man bezahlt in monatlichen Abstand und statt nur einem Film können tausende von Filmen und Serien geschaut werden. Dabei deckt sich der durchschnittliche Abo-Preis von den drei Streamingdiensten Netflix, Disney+ und Amazon Prime Video für das Jahr 2021 beinahe genau mit dem durchschnittlichen Preis für ein Kinoticket. Netflix’ günstigster Tarif liegt bei 4,99 Euro im Monat. Amazon Prime Video kostet 7,99 Euro und Disney Plus 8,99 Euro im Monat. Dazu kommt der heimische Komfort des eigenen Sofas, günstigere Snacks und die Pause-, Zurück- und Vorspulfunktion der Anbieter.
Die Preise können letztendlich dazu führen, dass ein Kinobesuch für eine Familie eher seltener möglich ist als das Abonnement eines oder mehrerer Streamingdienste.
Um einen durchschnittlichen, monatlichen Preis für die Streamingdienste zu ermitteln, haben wir die Preisentwicklungen vier großer Streaminganbieter (Netflix, Amazon Prime Video, Disney+, Apple TV+) heran genommen und den Durchschnittswert für jedes Jahr ermittelt. Da Streaming noch recht jung ist, werden die Dienste jeweils ab ihrem Markteintritt mit in die Durchschnittsrechnung aufgenommen. Dadurch entsprecht der Durchschnitt von 2014 bis 2016 dem monatlichen Abo-Preis von Netflix. Da Netflix mehrere Abo-Tarife hat, haben wir den preislich im Mittelfeld liegenden „Standard-Tarif“ genutzt.
Was gegen den Trend spricht, ist die emotionale Einstellung der Menschen. Studentinnen der Hochschule der Medien Stuttgart erfragten in einer Umfrage das Netflix-Verhalten von 12 Probanden. Das Angebot des Streamingdienstes wurde als groß, vielfältig und zufriedenstellend wahrgenommen, was zu einem hohen Konsum führe. Das Empfehlungssystem von Netflix, das automatisch auf den Nutzer angepasste Serien- und Filmvorschläge macht, unterstütze dies. Jedoch führte das hohe Angebot teilweise zu Überforderung und im Extremfall sogar zum Verlassen der Website.
Aus der Umfrage ergab sich, dass die Probanden Netflix gerne als „Nebenbei-Medium“ nutzen. Somit sind Inhalte beliebt, die auch mit geteilter Aufmerksamkeit gesehen werden können. „Ich schaue vor allem Dokumentationen und irgendwelche Serien, die man sich einfach so zum Zeitvertreib anschauen kann“, wird eine Probandin in der Studie zitiert. Andere gaben an, Netflix zur Entspannung zu nutzen.
Überraschend ist jedoch, dass auch viele Probanden ihre Watchtime, also die Zeit, die sie auf Netflix verbringen, verringern möchten. Als Alternative würden viele gerne mal wieder ein Buch lesen, lineares Fernsehen schauen oder Musik hören. Es besteht keine emotionale Verbindung zu dem Streamingdienst: „Also wenn ich kein Netflix habe, bricht meine Welt nicht zusammen.“
Einer der Probanden gibt zudem an, lieber wieder ins Kino gehen zu wollen: „Wenn ich mein Kinojahr vor Augen habe, mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Filmen, dann lässt sich das durch Netflix nicht ersetzen.“
Ins Kino gehen ist vergleichsweise für Menschen ein ganz anderes Erlebnis. Anlässlich der 70. Filmfestspiele in Cannes untersuchte Mastercard in einer Studie die Kinogewohnheiten bei 2125 Bewohnern in sieben Städten, darunter Berlin. Kino wird hier als regelmäßige Beschäftigung wahrgenommen, die gerne gemeinsam unternommen wird. Anstatt, dass es eine Nebenbeibeschäftigung sein soll, wollen die Befragten im Kino unterhalten werden. Ihnen sei es wichtig, zu lachen, überrascht zu werden und zum träumen angeregt zu werden. „Heutzutage schätzen Menschen Erlebnisse mehr als Dinge. Kino folgt dem gleichen Prinzip und das ist einer der Gründe, weshalb es eine einzigartige kulturelle Beschäftigung bleibt“, fasst Rose Beaumont, Senior Vice President, Global Marketing und Communications bei Mastercard zusammen.
Es gibt jedoch auch Kritik für das Kino. „Obwohl der Kinobesuch als Erfahrung nicht abnimmt, müssen sich Filmtheater den Erwartungen und Anforderungen ihres Publikums anpassen“, warnt Nick Vivarelli, Journalist von Variety. Dazu gehöre, die Ausstattung der Kinos zu verbessern und das Kinoerlebnis weiterzuentwickeln, mit dem Ziel, es vom Film schauen zuhause abzuheben.
Die Zahlen zeigen ein klares Bild von dem Rückgang des Kinos und dem starken Wachstum der Streamingdienste. Bringen die Streamingdienste die Kinos also um? Es ist unwahrscheinlich, dass wir uns in nächster Zeit von roten Sesseln und Popcorn verabschieden müssen. Denn auch wenn Streaming weiterhin an Beliebtheit gewinnt, wird es kaum das Erlebnis eines Kinobesuchs ersetzen können. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich zudem noch nicht sagen, ob der starke Einschnitt durch die Corona-Pandemie das Kino nachhaltig schwächt. Es besteht die Möglichkeit, dass sich dort nach der Pandemie eine Erholung zeigen wird und Filmproduzenten die Kinos wieder mehr als attraktives Medium wahrnehmen. Letzten Endes liegt es an den Kinos, sich weiterzuentwickeln, um so die Zuschauer wieder in die Säle zu locken.