Stand: Sommersemester 2020
Hättet ihr jemals gedacht, dass ihr mal Leben dadurch retten werdet, zu Hause zu bleiben? Corona hat das Leben von fast allen von uns von oben bis unten auf den Kopf gestellt. Auch vor Politikern*innen hat das Virus dabei keinen Halt gemacht. Auf einmal mussten Entscheidungen getroffen werden, von denen wahrscheinlich die meisten Politiker gedacht hätten, solche Entscheidungen würden sie nie treffen müssen.
Viel lief dabei über Kommunen, Länder und die Bundesregierung, aber wie sind eigentlich die Politiker*innen auf europäischer Ebene mit der Corona-Pandemie umgegangen:
„Also wir hatten oder haben ja einen italienischen Parlamentspräsidenten David Sassoli und der hat natürlich den dramatischen Verlauf in Italien viel früher und viel intensiver mitbekommen als wir das haben. Und auch schon Maßnahmen erlassen, als alle anderen gesagt haben, das ist eine Grippe.“
– das ist Tiemo Wölken. Er sitzt für die SPD im europäischen Parlament und zeigt mit seinem Rückblick, weshalb David Sassoli, der Präsident des Parlaments, bereits so früh Maßnahmen ergriffen hat.
„Ich war am 11. März 2020 das letzte Mal in Brüssel vor dem Lockdown. Wobei in der Woche Sitzungen schon nur dort erlaubt waren, wo Abstand eingehalten wird. Es gab dann schon Desinfektionsmittel und so weiter und sofort. Und in der Woche vorher war dann ja schon ein Besuchsverbot. Da hieß es dann schon, dass keine Externen mehr hineinkommen können.”
Digitale Umstellung im europäischen Parlament
Diese Maßnahmen, also Abstand halten, Hände waschen, keine Besucher gelten noch immer. Doch schon kurz darauf wurde die Arbeit in Präsenz im Parlament komplett eingestellt und die Abgeordneten wurden, wie so viele andere in ganz Europa, ins Home-Office geschickt. Im Gegensatz zu den Politikern*innen auf Bundesebene. Doch auch diese Maßnahme macht im europäischen Parlament durchaus Sinn:
„Da kommt dann ja bei dem Eklat noch dazu, dass natürlich wir prädestiniert für so ein Super-Spray sind. Also das aus vielen Ländern Leute zusammenkommen und dann noch auf recht engen Raum zusammenarbeiten und zwar in verschiedensten Konstellationen den ganzen Tag.”
Auch für die Parlamentarier*innen bedeutete das viel Umstellung:
„Auf der einen Seite habe ich mehr Zeit gehabt, aber die wurde dann eben auch für Organisation, Technik oder Abstimmungsangelegenheiten auch wieder fast aufgefressen“
– so fasst Viola von Cramon von den Grünen die Zeit im Home-Office zusammen. Denn auch für die Abgeordneten hieß diese Zeit vor allem viel Organisation und Video-Call um Video-Call.
Ein Arbeitsalltag mit technischen Hürden
Tiemo Wölken arbeitet ohnehin bereits viel digital, doch auch wenn jetzt immerhin keine Postmappen mehr von hier nach dort geschleppt werden mussten, war es doch auch für ihn eine große Umstellung:
„Wir sind ja alle durch so eine Lernphase gegangen. Welches Konferenztool ist jetzt eigentlich das Gute oder das Beste? Welches hat vielleicht Delta-Protection-Issuses und welches nicht?“
Vor technischen Problemen sind dabei übrigens auch Europaabgeordnete nicht sicher:
„Aber es war schon schwierig, weil natürlich häufig die Verbindungen nicht geklappt haben. Die Leute es nicht verstanden haben oder rausgeflogen sind. Also eine Kommunikation wie im persönlichen und physischen Sinne, wenn man sich auch wirklich in die Augen schauen kann, ist natürlich was anderes. Das ist auch wirklich etwas, wo man gemerkt hat, wie schlecht wir digital doch aufgestellt sind.”
Viola von Cramon sieht aber durchaus auch positive Seiten in der Situation:
„Sonst besteht das Leben ja aus sehr vielen Reisen und sehr vielen Transaktionenkosten, die man damit verbringt, ständig den Ort zu wechseln und Leute dann vor Ort zu treffen, Koffer zu packen und so weiter. Also man hat doch sehr viel Rüstzeiten und jetzt in der Situation, muss ich ganz ehrlich sagen, alle hatten sich drauf eingestellt, dass sie sich digital weiterbilden müssen und dass sie empfangsbereit sein müssen und digitale Formate aufbauen müssen. Ich fand das eigentlich sehr angenehm, weil eben diese ganzen Anfahrtsverhalten, die ganzen Reisezeiten und so weiter, das fiel weg.“
Beschlussfähigkeit trotz Home-Office
Digitale Formate kannte das Parlament bis dahin gar nicht. Innerhalb kürzester Zeit waren die Verantwortlichen durch die Pandemie aber zur Reaktion gezwungen, um die politische Arbeit weiter zu ermöglichen. Dafür wurde zum Beispiel ein Online-Voting-Verfahren eingeführt, sodass Abstimmungen weiterhin durchgeführt werden konnten. Die Abgeordneten mussten dafür ihre Stimmzettel ausdrucken, ausfüllen, unterschreiben und dann wieder einscannen. So konnte aber zum Beispiel immerhin der Recovery Fund abgestimmt werden.
Neben 540 Milliarden Euro an Soforthilfe für Arbeiter*innen und Geschäfte und 1.100 Milliarden Euro, die für den mehrjährigen geplanten Finanzrahmen der EU mehr geplant wurden, sind unter dem Namen „Next Generation EU“ ganze 740 Milliarden Euro explizit dafür eingeplant, die europäische Union in den kommenden Jahren aus den Folgen der Corona-Pandemie zu ziehen. Dieses Geld soll dann dafür genutzt werden, Mitgliedsstaaten in ihrem Weg aus der Krise zu stützen, die Ökonomie wiederzubeleben und aus der Krise für die Zukunft zu lernen.
Natürlich ging es im Parlament auch weiter um andere Themen, außerhalb von Corona:
„Gerade die Kommission hat, nachdem sie sich auch so ein bisschen umgestellt hat, weiter an dem Gesetzgebungsvorhaben gearbeitet. Wir als Parlament und ich zum Beispiel habe auch mein Bericht zum Digital Services Act vorgestellt. Wir haben glaube ich einandhalb Wochen die Veröffentlichung verschoben.“
Für die Mitarbeiter*innen war die vergangene Zeit aber durchaus eine große Mehrbelastung, da es sind sich Tiemo Wölken und Viola von Cramon einig. Und erleichtert hat die Pandemie die Arbeit auf jeden Fall auch nicht, denn die Meeting-Kapazitäten zum Beispiel waren begrenzt und so mussten einige Pflichtaufgaben dann doch nach hinten verschoben werden.
„Also in der Außenpolitik, also da wo ich jetzt einen Einblick habe, ist es sicherlich schwieriger geworden, jetzt wieder da anzusetzen, wo man Anfang März oder Ende Februar aufgehört hat.”
Planung einer hybridorientierten Zukunft
Stück für Stück geht es für die Abgeordneten jetzt aber zurück in das Parlament, für Sitzungen in Präsenz. Nach über drei Monaten sind die jetzt also zum ersten Mal wieder in Brüssel. Was bleibt also aus dieser Zeit? Was waren die großen Herausforderungen? Und was nehmen die Abgeordneten mit?
„Ausschusssitzungen, die digital durchgeführt sind, kannte das Parlament bis dahin nicht. Abstimmungen online kannten wir bis dahin auch nicht und das beides unter einen Hut zu bringen, also zum einen prioritäre Gesetze, aber auch die Anderen weiter notwenigen nicht zu vergessen und gleichzeitig neue Arbeitsmethoden zu etablieren. Und dann aber auch zu versuchen, dass ganze wieder zu mehr Präsenz hinzubringen, denn das halte ich schon weiterhin für wichtig. Es muss nicht jede sein, gar keine Frage, aber gerade Trilogverhandlungen, das muss weiterhin in Präsenzsitzungen stattfinden.”
Dem kann Viola von Cramon sich anschließen. Sie wünscht sich mehr hybride Formate, wie sie sich aktuell etablieren. Also Formate bei denen die Abgeordneten sowohl in Präsens als auch digital anwesend sein können:
„Ich glaube, das würde sozusagen der europäischen Sichtbarkeit insgesamt auch guttun. Also das heißt, wenn ich nicht da war, ich habe ja sonst eine sehr hohe Anwesenheitspflicht gehabt, verpasse ich etwas. Wenn ich aber jetzt die Möglichkeit habe mich auch von unterwegs besser zuzuschalten, weil einfach alles in hybriden Formaten auch angeboten wird, also ich könnte mir vorstellen, dass das ein echter Schub wäre und eigentlich ist es ja überfällig. Im Grunde wissen auch alle, dass wir es längst hätten so machen sollen, aber es gab natürlich eine gewisse Bequemlichkeit, dann Vorbehalte, vielleicht auch das Geld. Es gab eben nicht die Notwendigkeit, so wurde es also aufgeschoben.“
Starker Zusammenhalt in der EU
Das Telefonate oder Zoom-Konferenzen persönliche Gespräche nicht ersetzen können, ist für Viola von Cramon sowieso klar. Das gilt sowohl für den Austausch im Wahlkreis aber auch in dem Austausch mit den Parlamentskollegen*innen. Viele dieser Möglichkeiten, zum kurzen informellen Austausch sind durch die Arbeit im Home-Office, in ihren Augen, in den vergangenen Monaten aber verloren gegangen. Spontane oder zufällige Treffen auf dem Gang oder ein kurzes Gespräch am Rand einer Ausschusssitzung fielen einfach weg. Eines ist für sie jedoch klar:
„Was ich schon spannend fand, ist natürlich auch der Remote-Modus. Ich weiß es noch, ich habe dann an einem Tag mit dem … telefoniert, ich habe mit jemandem in Polen oder auch zwei Franzosen gesprochen. Es ist schon ein tolles Gefühl, diese Kollegen trotzdem natürlich an seiner Seite oder an unserer Seite zu wissen. Sozusagen das europäische Gefühl, dass wollte ich eigentlich nur noch am Ende loswerden, das ist nicht verloren gegangen. Im Gegenteil: We are in this together. Das war wirklich auch gelebt, also auch diese europäische Solidarität und die Frage wie geht es dir und was macht ihr? Und diese Themen gemeinsam zu bearbeiten, das ist natürlich absolut geblieben.“