Rechtsruck und Spaltung: Herausforderungen für Frankreichs Demokratie

Der Rechtsruck um die Rassemblement National

von Nike Tecklenborg

Das politische Spektrum in Frankreich verschiebt sich, wie in vielen europäischen und westlichen Ländern, seit einigen Jahren nach rechts. Wie es dazu gekommen ist, wie es aktuell um die Demokratie in Frankreich bestellt ist und was die Rechtspartei um Marine Le Pen und Jordan Bardella damit zu tun hat, haben wir mit Matthias Krupa besprochen. Krupa ist seit 2021 Korrespondent der ZEIT in Frankreich. Er schreibt vor allem über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unseres Nachbarlandes und analysiert deren Auswirkungen für Europa.

ZEIT-Korrespondent Matthias Krupa beschreibt die aktuelle Lage der Demokratie in Frankreich. Foto: Matthias Krupa / ©ZEIT ONLINE.

Wurzeln rechter Politik in Frankreich

Mit der Geschichte der konservativen und rechten Politik in Frankreich ließe sich laut Matthias Krupa „ein Buch oder sogar eine Bibliothek“ füllen. Vor allem im 19. Jahrhundert gab es in der französischen Politik bereits rechte Tendenzen. Wie viele andere Kolonialmächte auch hat Frankreich im 19. Jahrhundert vor allem in Afrika geherrscht. Algerien nimmt dabei eine Sonderstellung ein. Laut Studienleiterin Justine Bitam und Politikwissenschaftlerin Katrin Sold von der Bundeszentrale für politische Bildung versuchte die Regierung, durch Siedlungsprogramme den französischen Einfluss in Algerien zu stärken.

Mitte des 20. Jahrhunderts lebten deshalb rund eine Million Europäerinnen und Europäer mit französischer Staatsbürgerschaft und französischen Rechten in Algerien. Der algerischen Bevölkerung wurden jedoch viele französische Bürgerrechte, wie beispielsweise das Wahlrecht, verwehrt, was zu Spannungen führte. Proteste der algerischen Bevölkerung schlug die französische Armee nieder. Daraufhin folgten weitere Attentate der Nationalen Befreiungsfront Algeriens und der Algerienkrieg begann. Nach Ende des Krieges 1962 begannen die französische Regierung, aber auch die Bevölkerung damit, das Geschehene zu verdrängen und darüber zu schweigen. Erst in den frühen 1990er-Jahren begann die Aufklärung des Krieges. Durch den Bürgerkrieg in Algerien 1991 gelangte die Thematik zurück in die französische und internationale Öffentlichkeit. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien angespannt, nicht zuletzt, weil weder Emmanuel Macron, seit Mai 2017 Staatspräsident der Französischen Republik und Mitglied der liberalen Partei „Renaissance“, noch einer seiner Vorgänger sich je offiziell für die Verbrechen entschuldigt hat. Laut Bitam und Sold identifizieren sich viele Algerierinnen und Algerier in Frankreich bis heute nicht mit ihrem Heimatland, was Macron als Gefahr für die nationale Einheit und als Motiv für Terrorismus sieht.

Von Mitterrand zu Macron: Anhaltende Spaltungen

Durch den Amtseintritt des Sozialisten François Mitterrand als Staatspräsident im Jahr 1981 begann laut dem Historiker Matthias Waechter eine weitere Phase der Verunsicherung. Vorrangiger Grund dafür sei die Differenz zwischen den Hoffnungen, die er dem französischen Volk machte, insbesondere wirtschaftliche Reformen, und seinen Bilanzen gewesen. Die rechtsgerichtete Partei Rassemblement National, damals noch Front National, hatte bei den Parlamentswahlen im selben Jahr nicht einmal ein Prozent der Stimmen. 1986 erreichten sie dann aber bereits fast 10 Prozent der Stimmen. Auch durch Mitterrand entstanden also Spaltungen im Land, die bis heute andauern. Im Jahr 2017 wurde Emmanuel Macron zum Staatspräsidenten gewählt. Eines seiner Versprechen war, die Spaltungen im Land aufzulösen und die Gesellschaft mit der Politik zu versöhnen. Laut Michaela Wiegel von der Bundeszentrale für politische Bildung ist das Misstrauen vieler Französinnen und Franzosen in die französische Regierung damit aber nicht verschwunden. Nicht zuletzt, weil Macron seine Wahlversprechen nicht wirklich umgesetzt habe, seien heute viele Wählerinnen und Wähler unzufrieden mit seiner Politik. Für eine steigende Prozentzahl der Wählerschaft wird es deshalb realistischer, die Rechtspartei Rassemblement National zu wählen. Nachdem sie im Jahr 2017 rund 13 Prozent bei den Parlamentswahlen erreicht hatte, waren es bei der nächsten Wahl 2022 bereits circa 19 Prozent der Stimmen. Es stellt sich laut ZEIT-Korrespondent Matthias Krupa nun die Frage, „ob die bislang Rechtsextreme möglicherweise das Erbe der Konservativen antritt“. Damit ist gemeint, ob Bürgerinnen und Bürger, die bisher eher mittig gewählt haben, nun eher rechte Parteien wählen würden, da Macron seine Wahlversprechen nicht einhält.

Vertrauensverlust in demokratische Institutionen

Aber ist die Demokratie in Frankreich, nicht zuletzt herausgefordert durch den Rechtsruck, generell noch intakt? Krupa findet darauf eine eindeutige Antwort: „Die Demokratie in Frankreich ist intakt.“ Damit meint er vor allem die politischen Institutionen. Als Kriterien für eine Demokratie nennt er freie und faire Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parlamentarismus. „Die sind gegeben.“ Rein institutionell sei die Demokratie in Frankreich also aktuell intakt. „Die Frage ist, ob innerhalb der Institutionen Kräfte stärker werden können“, so Krupa weiter. Laut einer Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung verliert die französische Bevölkerung immer mehr ihr Vertrauen in die demokratischen Institutionen, nicht zuletzt wegen des Artikels 49 Absatz 3. Dieser besagt, dass ein von der Regierung verabschiedetes Gesetz als vom Parlament angenommen gilt, außer es wird innerhalb eines Tages ein Misstrauensantrag eingereicht, der die Mehrheit der Stimmen im Parlament erhält. Eigentlich darf er nur dreimal pro Sitzungsperiode eingesetzt werden. Eine Ausnahme gibt es aber bei geplanten Gesetzen, die sich auf das Staatsbudget beziehen. Dazu gehört auch die Rentenreform. Deshalb konnte Premierministerin Élisabeth Borne, ebenfalls Mitglied der Partei „Renaissance“, beispielsweise innerhalb weniger Monate den Artikel schon elf Mal einsetzen, sehr zum Unmut der Bürgerinnen und Bürger.

Ähnlich wie in vielen europäischen und westlichen Ländern steigt dieser Unmut der Bevölkerung also auch in Frankreich. „Man sieht, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung und den Resultaten der Demokratie gewachsen ist“, beschreibt es Krupa. Dabei bezieht er sich auf Umfragewerte. Laut einer in der Sonntagszeitung „Journal du Dimanche“ veröffentlichten Erhebung sind im April 2024 54 Prozent der Französinnen und Franzosen zufrieden mit Macrons Amtsführung. Im Juni waren es aber noch 64 Prozent. Macron dürfte unter anderem der Streit über geplante Kürzungen im Verteidigungsetat geschadet haben. Außerdem gab es in der Regierung Unstimmigkeiten um geplante Steuersenkungen. Diese und weitere Streitpunkte Macrons mit anderen Politikerinnen und Politikern sowie mit der Bevölkerung stellen eine große Herausforderung für Frankreich dar.

Externe und interne Herausforderungen für Frankreichs Politik

Weitere Herausforderungen für die französische Regierung ergeben sich auch aus geopolitischen Spannungen. In Europa herrscht offiziell seit 2022 der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der neben der Ukraine selbst auch die EU-Mitgliedsstaaten fordert. Macron nahm dabei bereits eine Art Vorreiterrolle ein, als er im Februar 2024 bei einer Hilfskonferenz den Einsatz von westlichen Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschloss. Neben vielen Menschen aus der eigenen Bevölkerung lehnten auch einige EU-Politikerinnen und -Politiker diese Einstellung ab. Vor allem der slowakische Ministerpräsident Robert Fico warnte vor einer gefährlichen Eskalation der Spannungen mit Russland. Neben den externen gibt es für die französische Regierung auch große interne Herausforderungen. Wie eingangs bereits beschrieben, stehen viele westliche Demokratien momentan vor großen Umbrüchen. „Sie stehen, simpel gesagt, vor der Herausforderung, dass sie den politischen und gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart gerecht werden müssen“, so Matthias Krupa. Und das sind neben dem Krieg in der Ukraine auch der Klimawandel und Migration. Besonders bei letzterem unterscheiden sich die Meinungen der Bevölkerung enorm. Viele Anhängerinnen und Anhänger rechter französischer Parteien sehen vor allem die Einwanderung als Problem. „Frankreich kann es sich nicht mehr leisten, die Armen der ganzen Welt aufzunehmen“, so ein Anhänger der Rassemblement National im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Einwanderungsproblematik bietet demnach einen weiteren Grund für viele Französinnen und Franzosen, rechte Parteien zu wählen. Krupa fasst die aktuelle politische Lage in Frankreich so zusammen: „Mit zugespitzten politischen Herausforderungen klarzukommen, das ist, glaube ich, die Herausforderung.“

Die Präsidentschaftswahlen 2027: Le Pens Chancen und die politische Landschaft

Die Spaltungen in der französischen Bevölkerung und das Erstarken rechten Gedankenguts sind also durch viele Missstände hervorgerufen worden. Die Rechtspartei Rassemblement National kann diese Missstände durch aktuelle Krisen augenscheinlich für sich nutzen. „Schon heute ist diese Partei die stärkste Oppositionspartei im französischen Parlament und die Aussichten, eine noch bestimmendere Kraft der französischen Politik zu werden, sind groß“, so Matthias Krupa weiter. Im Jahr 2011 übernahm Marine Le Pen den Vorsitz der Partei von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen. Dieser verfolgte einen explizit diskriminierenden Kurs und war Migrantinnen und Migranten gegenüber feindlich eingestellt. Marine Le Pen hat sich davon abgewendet und versucht, die Partei moderner wirken zu lassen. Sie legte Wert darauf, das Image einer homophoben und rechtsextremen Partei zu brechen. Dennoch wird die RN heute noch immer als rechte oder rechtsextreme Partei eingestuft. Nicht zuletzt wegen des Narratives, das Le Pen pflegt. Sie verteidigt nach eigenen Angaben die Identität und die Werte des Landes, ist gegen den Islam, gegen korrupte Politikerinnen und Politiker, gegen die Macht Brüssels und gegen eine ihrer Meinung nach ausufernde Globalisierung.

Außerdem befasst sich die Partei nun auch immer mehr mit wirtschaftlichen und sozialen Themen. Gelegen kam Marine Le Pen dabei bereits die hohe Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in Frankreich in den 2010er-Jahren. Die RN spricht mit ihrem Programm vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter an, sowie kleinere Angestellte im öffentlichen Dienst. Die Rassemblement National legt ihren Fokus also vor allem darauf, dem „schwachen Frankreich“ zu helfen. Der Populismus, den die Partei dabei fährt, hilft ihnen, die Narrative ans Volk heranzutragen. Wegen der Präsidentschaftswahlen 2022 gab Le Pen den Vorsitz ihrer Partei an Jordan Bardella ab. Wie mächtig Marine Le Pen und die Rassemblement National in den nächsten Jahren werden wird, bleibt abzuwarten. Matthias Krupa meint: „Sicherlich ist Marine Le Pen mit ihrer Partei heute so stark, wie sie es nie war.“ Bei der letzten Wahl hatte Le Pen bereits rund 42 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang erhalten. In Frankreich brauchen die Kandidatinnen und Kandidaten knapp über 50 Prozent der Stimmen, um die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.

Den Rechtsruck in Frankreich erklärt sich Matthias Krupa nicht nur durch das Erstarken der Rassemblement National: „Der findet nicht nur statt, weil die RN stärker geworden ist, sondern auch, weil sich das politische Spektrum insgesamt auf die rechte Seite verschoben hat.“ So schätzt er auch die Politik Macrons heute als rechter ein, als sie es zu Beginn seiner Amtszeit war. Wie bereits beschrieben, führen in Frankreich viele verschiedene Missstände dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger mit der jetzigen Regierung unzufriedener werden und das Volk gespalten ist. Ob die Rassemblement National dies bei der Präsidentschaftswahl 2027 für sich nutzen wird oder eine andere Partei dem Rechtsruck möglicherweise entgegenwirken wirken kann, bleibt offen. Eins aber ist für Krupa klar: „Wir können Politik nur mit Politik bekämpfen. Das heißt, wir können rechte Politik nur mit guter anderer Politik bekämpfen.“