Unüberprüfbar: „Oktoberfest 2023: Zahlen der Übergriffe auf Mädchen und Frauen gehen deutlich zurück“

von Neele Suckert und Allegra Düser

aus dem Modul "Schwerpunkt Journalismus: EUFactcheck"

Der Beitrag ist im Rahmen des EUfactchecks entstanden, und ist ein Projekt der European Journalism Training Association (EJTA). Studierende und Lehrende sind hierbei Teil eines internationalen Netzwerks von Journalismus-Hochschulen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit verantwortungsbewusster Recherche nach gemeinsamen Regeln gegen Desinformation vorzugehen. Bitte beachten Sie, dass der Stand der Recherche zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im November 2023 liegt, wodurch Informationen veraltet sein könnten.

In einem Artikel der deutschen Nachrichten-Website „Merkur.de“ behauptet die Journalistin Lisa Metzger, dass die Zahl der Übergriffe auf Mädchen und Frauen deutlich zurückgegangen sei. Nach unseren Recherchen ist diese Aussage nicht nachweisbar.

Grafik zum Faktencheck Unüberprüfbar
In dem Artikel „Wiesn 2023: Deutlich weniger Übergriffe auf Frauen als im Vorjahr – Verdachtsfälle auf K.-o.-Tropfen nehmen zu“ vom 26. September 2023 berichtet die Journalistin Lisa Metzger, dass 2023 weniger Frauen als 2022 Hilfe im Opferschutzraum „Sichere Wiesn“ benötigten. Der frei zugängliche Schutzraum „Sichere Wiesn“ ist eine gemeinsame Aktion von „Amyna“, „IMMA“ und „Beratungsstelle Frauennotruf München“ für Mädchen und Frauen in Not, die auf dem weltgrößten Volksfest Oktoberfest in München einen Schutzraum oder professionelle Hilfe benötigen. In ihrem Artikel behauptet sie: „Oktoberfest 2023: Zahlen der Übergriffe auf Mädchen und Frauen gehen deutlich zurück. Die gute Nachricht ist, dass es deutlich weniger Frauen und Mädchen in Not gibt als im vergangenen Jahr. Mussten die Helferinnen und Helfer der Aktion „Sichere Wiesn“ im Jahr 2022 noch 228 Frauen und Mädchen helfen, sind es im Jahr 2023 nur noch 143 Frauen in Not. Damit nähern wir uns dem Vorpandemiejahr 2019, in dem es 146 Fälle gab.“
Bildschirmfoto des Artikels von Lisa Metzger
Bildschirmfoto des Artikels von Lisa Metzger
Die betreffende Behauptung ist eine Tatsachenbehauptung, da die Zahlen anhand von Statistiken überprüft werden können. Es handelt sich also um eine präzise und sachliche Behauptung, die sich auf ein klar umrissenes Thema konzentriert und einen genauen Zahlenwert angibt. Die Daten für diesen Artikel hat der Journalist von der Initiative „Sichere Wiesn“ bezogen, die damit die Primärquelle darstellt. Diese Behauptung kann in diesem Faktencheck durch die Analyse der Zahlen und Aussagen dieser Kampagne auf ihre Richtigkeit und Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Die Lage auf dem Oktoberfest 2023

Die Aktion „Sichere Wiesn“ verzeichnete im Jahr 2023 einen Rückgang der Besucherzahlen, was möglicherweise auf das Fehlen bestimmter Dienstleistungen wie das kostenlose Aufladen von Handys zurückzuführen ist. Das Fehlen dieser Möglichkeiten könnte einige Besucher davon abgehalten haben, an der Aktion teilzunehmen, was zu einem Rückgang der Gesamtbesucherzahl führte. Die Expertin Manuela Soller von „Amyna“ und „Sichere Wiesn“ merkte an, dass das angenehme Wetter die Menschen dazu veranlasste, mehr Zeit im Freien zu verbringen, was zu einer größeren Menschenmenge führte und möglicherweise die Wahrscheinlichkeit von Zwischenfällen in den Festzelten verringerte. Im Jahr 2022 waren die Zelte aufgrund der schlechten Wetterbedingungen überfüllt. Folglich könnte es sinnvoller sein, sich auf die Zahl der gemeldeten Übergriffe zu konzentrieren als auf allgemeine Beratungen. Durch die Berücksichtigung dieser Faktoren können wir ein besseres Verständnis der Gesamtsituation auf dem Oktoberfest im Jahr 2023 gewinnen.

Analyse der Zahlen zu sexueller und körperlicher Gewalt gegen Mädchen und Frauen bei der Aktion „Sichere Wiesn“

Uns liegen Daten aus der Aktion „Sichere Wiesn“ vor, die wir leider nicht im Detail für die Öffentlichkeit freigeben dürfen. Es ist wichtig einzuräumen, dass die Stichprobengröße der gemeldeten Fälle nicht repräsentativ für die tatsächliche Verbreitung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf dem Oktoberfest sein kann. Die Zahlen im Jahr 2023 sind im Vergleich zum Jahr 2022 leicht gesunken. Es ist ein marginaler Rückgang im einstelligen Bereich zu verzeichnen, sodass nicht von einem signifikanten Rückgang gesprochen werden kann. Außerdem entsprechen die Zahlen für 2023 in etwa den Zahlen vor der Pandemie, was darauf hindeutet, dass es keinen wesentlichen Rückgang der Vorfälle gegeben hat.

Es ist genauer, das Jahr 2022 als Ausreißer zu betrachten, und zwar aufgrund der Pandemie und der ungünstigen Wetterbedingungen, wie im vorherigen Absatz beschrieben. Die aktuellen Zahlen nähern sich dem Niveau vor der Pandemie und sind nicht wesentlich zurückgegangen. Die Expertin Manuela Soller erklärt: „Unserer Einschätzung nach bedeuten sinkende Zahlen nicht unbedingt weniger Gewalt und auch nicht, dass niedrigere Zahlen in der Vergangenheit auf weniger Gewalt hinweisen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Unsere Dienste sind bekannter geworden, und das gesellschaftliche Bewusstsein für das Thema hat zugenommen. Daher glauben wir, dass die Zahlen im Laufe der Jahre allgemein gestiegen sind.“ Dies unterstreicht die Notwendigkeit fortgesetzter Bemühungen, sexuelle und körperliche Gewalt gegen Mädchen und Frauen anzugehen und zu bekämpfen.

K.-o.-Trop­fen auf dem Oktoberfest und Polizeistatistik zu Übergriffen

Eine weitere Expertin, Lisa Löffler, die Leiterin der Kampagne „Sichere Wiesn“, hat in einem Interview mit der TAZ erklärt, dass die Gewalt gegen Frauen in den vergangenen Jahren weder zu- noch abgenommen hat. Das Victim-Blaming habe abgenommen und die Bereitschaft, bei Übergriffen einzugreifen, sei gestiegen. Laut Löffler ist die Zahl der bestätigten Anzeigen bei der Polizei im Vergleich zum Vorjahr um rund 25 % gestiegen. Durch die Videoüberwachung auf dem Oktoberfest bestehe eine hohe Chance, Täter zu identifizieren, sodass sich eine Anzeige lohne. In dem Interview erwähnt sie, dass der Gebrauch von K.-o.-Tropfen zugenommen hat – zumindest nach den oberflächlichen Anzeichen der Opfer zu urteilen. Ein Test auf K.-o.-Tropfen sei auf dem Festgelände nicht möglich.

Diese Vermutung wird auch von Polizeioberrat Christian Poganzki von der Stadt München bestätigt. Nach Angaben der Polizei haben die Meldungen über sexuelle Übergriffe zugenommen. Im Jahr 2022 wurden 60 Fälle gemeldet, darunter drei Vergewaltigungen, im Jahr 2023 sind es bereits 80, darunter acht Vergewaltigungen. Poganzki widerspricht jedoch der Annahme, dass der Gebrauch von K.-o.-Tropfen zugenommen hat. In diesem Jahr ist nur eine bestätigte Meldung eingegangen. Er kann zwar keine gesicherte Aussage über die tatsächliche Dunkelziffer machen, ist aber der Meinung, dass diese nach wie vor hoch ist und nur durch wirksame Präventionsmaßnahmen reduziert werden kann. Dies erklärt den Anstieg der gemeldeten Fälle mit der zunehmenden Sensibilisierung der Gesellschaft und der Bereitschaft, Vorfälle zu melden, bedeutet aber nicht, dass die Gewalt generell zunimmt.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forderung „Oktoberfest 2023: Zahlen der Übergriffe auf Mädchen und Frauen gehen deutlich zurück“ ist nicht überprüfbar. Zwar ist ein leichter Rückgang der gemeldeten Fälle bei der Aktion „Sichere Wiesn“ im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen, doch muss man den größeren Zusammenhang betrachten. Vergleicht man die Zahlen mit den Jahren vor der Pandemie, so wird deutlich, dass dieser Rückgang nicht signifikant ist. Es kann also nicht gesagt werden, dass die Zahlen signifikant zurückgegangen sind. Auch die Zahl der bei der Polizei gemeldeten Vorfälle ist gestiegen und steht im Widerspruch zu den Zahlen der Initiative „Sichere Wiesn“. Zudem ist die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Fälle so hoch, dass keiner der Experten eine gesicherte Aussage darüber treffen kann, ob die Gewalt ab- oder zugenommen hat. Es gibt nur Spekulationen.

Gerade deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Statistik der „Sichere Wiesn“ und auch die Polizeimeldungen aufgrund der begrenzten Stichprobengröße und einer erheblichen Dunkelziffer die tatsächliche Häufigkeit von Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf dem Oktoberfest nicht genau wiedergeben. Es ist wichtig, Statistiken wie diese mit Vorsicht zu betrachten und die Bemühungen zur Bekämpfung von sexueller und körperlicher Gewalt gegen Mädchen und Frauen fortzusetzen. Durch die Berücksichtigung verschiedener Faktoren wie Besucherzahlen, Medienverbreitung, Wetterbedingungen und gesellschaftliches Bewusstsein kann ein umfassenderes Verständnis der Gesamtsituation gewonnen werden.

Inzwischen könnte die Journalistin Lisa Metzger oder das Online-Magazin Merkur.de erkannt haben, dass sie die Zahlen missinterpretiert und in einem falschen Kontext dargestellt haben. Leider war es nicht möglich, von der Journalistin eine Stellungnahme zur Löschung des Artikels zu erhalten. Der Artikel wurde nach Abschluss dieser Faktencheck-Untersuchung von der Website entfernt und ist nur noch über das Internetarchiv „WaybackMachine“ abrufbar.