Pädagogik meets Postheteronormativität

Unsere Gesellschaft verändert sich, entwickelt sich weiter, macht einen weiteren Schritt in der Evolution. Die „Ehe für alle“ und der seit 2018 mögliche dritte Geschlechtseintrag „divers“ sind wichtige rechtliche Schritte auf dem langen Weg in Richtung Postheteronormativität. Es geht darum Lebensweisen sichtbar zu machen und zu enttabuisieren. Jedoch ist damit das soziale Konstrukt der Heteronormativität nicht überwunden. Die Veränderung unseres kulturellen und zwischenmenschlichen Bewusstseins im Umgang miteinander ist grundlegend.
Gerade bei Kindern und Heranwachsenden hinterlassen unsere Handlungen prägende Eindrücke. Eine zeitgemäße Pädagogik ist daher wichtig. Mart Busche, Diplom-Politikwissenschaftler an der Alice Salomon Hochschule Berlin, schlägt neue Reflexionsimpulse zum Thema Geschlechter-, Sexualitäts- und Beziehungsvielfalt am Beispiel der offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) vor. Die OKJA versucht einerseits Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen, wie sie sich innerhalb der anerkannten Norm zurechtfinden können und andererseits, dass es Formen jenseits des gewohnten Standards gibt, die nicht weniger akzeptiert werden sollten.

Die geschlechterreflektierende pädagogische Arbeits- und Umgangsweise der OKJA beschäftigt sich mit der Frage wie Kindern und Jugendlichen begegnet werden kann, die nicht dem Ideal entsprechen. Wichtig sei es laut Mart Busche, dabei Subjektivierungsmöglichkeiten offen zu halten: „Subjektivierung ist ein Prozess, in dem wir innerhalb der vorgegebenen normativen Rahmenbedingungen in Erscheinung treten und von anderen dabei (an)erkannt werden“. Ein Beispiel dafür ist die offene Mädchenarbeit. Seit Jahren werde bei der OKJA diskutiert, was der Begriff „Mädchen“ bezeichne. Um eine möglichst diverse Atmosphäre zu schaffen wurde der Begriff „Mädchen*“ eingeführt. Der Genderstern soll verdeutlichen, dass jede*r, die*der sich selbst als Mädchen identifiziert, als solches willkommen geheißen wird. Dennoch wirft dies die Frage auf, ob die Kategorien Mädchen* und Jungen* in der mehrheitlich gemischtgeschlechtlichen Organisation OKJA nicht sogar aufgelöst werden sollten, da eine derartige Unterteilung überflüssig geworden sein könnte.

Laut einer Onlinebefragung mit 364 Teilnehmer unter zwölf bis 25 Jahren aus der Jugendverbandsarbeit und dem Sport ist die Diversität von Geschlecht und Sexualität stärker ausgeprägt als angenommen: „Etwa 35 Prozent der Jugendlichen positionierten sich zwischen den Polen „typisches Mädchen“ und „typischer Junge“. Fast 15 Prozent wählten eine Position in der Mitte bzw. gaben „weder noch“ als Geschlechtszuordnung an. Knapp die Hälfte der befragten Jugendlichen ordnete sich einem der beiden Pole zu“ (Busche et al. 2016, S. 151). Eine Herausforderung der OKJA ist es jedoch, den Kindern und Jugendlichen zu verdeutlichen, welche Identifikationsmöglichkeiten bestehen und ihnen einen offenen Umgang damit vorzuleben, ohne dass sie befürchten müssten auf abwertende Weise als „anders“ bezeichnet zu werden. Diese Sorge ist berechtigt. Die Kategorien „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ sowie „Heterosexualität“ scheinen ihren Status in unserer Gesellschaft dadurch zu festigen, dass sie andere Geschlechter und Sexualitäten als abweichend oder besonders erscheinen lassen. Laut einer Pilotstudie des Deutschen Jugendinstituts gaben 85 Prozent der befragten LSBTIQ+- Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, Diskriminierung aufgrund ihrer Lebensweise erfahren zu haben (vgl. Krell 2013, S. 10).
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Es komme immer noch zu häufig zu Ausgrenzungen. Die OKJA möchte diskriminierungssensibel und ermöglichend arbeiten. Mart Busche gibt einen Ausblick darauf, was es bedeuten könnte postheteronormativ miteinander umzugehen. Dazu müssten wir einander offen und respektvoll begegnen, um eine Welt zu schaffen, in der sich kein Mensch dafür rechtfertigen muss als was, wer und wie er leben möchte: „Ein postheteronormativer Zugang würde dabei von einer real existierenden Vielfalt ausgehen und diese weiterdenken, ohne die binäre Logik von Norm und Abweichung erneut herzustellen.“
Dieser Artikel basiert auf folgendem Fachartikel: “Next Stop: Postheteronormativität. Neue Reflexionsimpulse zum Thema Geschlechter-, Sexualitäts- und Beziehungsvielfalt für die (offene) Kinder- und Jugendarbeit” Online aufgerufen via SpringerLink (https:// link.springer.com/article/10.1007/s12054-021- 00366-y). Der Artikel erschien in der Publikation „Sozial Extra“ (S. 85–89) am online 3. März 2021 (https://doi.org/10.1007/s12054-021-00366-y).