von Insa Heidenreich und Finia Fischer
aus dem Modul "Datenjournalismus"
Mehrere Jahre lang bekam sie ein niedrigeres Gehalt als ihr männlicher Kollege – 1000 Euro weniger für den gleichen Job. Die Erklärung ihres Arbeitgebers? Er hatte einfach besser verhandelt. Der Fall der 44-Jährigen aus Dresden ist kein Einzelfall. Ihr Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht ist ein Meilenstein für mehr Gerechtigkeit in der Gehaltsverteilung zwischen den Geschlechtern.
Frauen verbringen 52,4 Prozent mehr Zeit mit unbezahlter Sorgearbeit
Vor allem die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an gesellschaftlichen Prozessen stellt eine Herausforderung dar. Besonders wenn es um die unbezahlte Sorgearbeit in Familie und Haushalt geht. Insbesondere in der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen wenden Frauen mehr als die Hälfte zusätzliche Arbeit auf. Das bezieht sich auf die Kindererziehung, Pflege von Angehörigen und Hausarbeit.
Es ist deutlich zu sehen, wo die Unterschiede liegen: Frauen machen mehr im Haushalt, Männer gehen mehr arbeiten. Unter Haushaltsführung und Betreuung der Familie fällt die Zubereitung von Mahlzeiten, Hausarbeit in der Küche, Reinigen und Aufräumen der Wohnung, Wäsche waschen und bügeln, Einkaufen, Kinderbetreuung, Pflege von Haushaltsmitgliedern und weiteres.
Ungleichheit der Geschlechter - eine Frage der Sozialisation?
Einmal in jeder Legislaturperiode veröffentlicht das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) den sogenannten Gleichstellungsbericht, der die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland untersucht. Außerdem gibt es seit Juli 2020 eine
Gleichstellungsstrategie für die Politik, die klar formulierte Ziele vorgibt. Dazu gehört etwa die Verringerung des Verdienstabstandes auf zehn Prozent bis 2030. Ebenso sollen bis 2030 in den Aufsichtsräten der börsennotierten Unternehmen 30 Prozent Frauen vertreten sein.
Im Jahr 2021 wurde bereits zum dritten Mal ein Gleichstellungsbericht veröffentlicht, der den Fokus auf eine geschlechtergerechte Digitalisierung legt. Im vorangegangenen Bericht von 2017 wurden in Bezug auf die ungleichen Verwirklichungschancen einige Gründe dargelegt, die dem derzeit entgegenstehen.
Die Koordinierungsstellte “Frauen und Wirtschaft” bietet Beratung und Workshops zu den Themen “Vereinbarkeit Familie und Beruf”, Weiterbildung und berufliche Neuorientierung.
Zwar sei die Berufswahl frei, aber doch geprägt von Rollenbildern und gesellschaftlichen Vorstellungen. „Es wird von Frauen erwartet, dass sie bestimmte frauentypische Berufe erlernen. Das ist Teil der Sozialisation, die sie von klein auf mitbekommen. Daher sind Vorbilder, wie jetzt das Urteil, besonders wichtig“, so Julia Bäcker, pädagogische Beraterin der Koordinierungstelle „Frauen und Wirtschaft“ in Oldenburg. Auch würden mehr Männer an betrieblichen Weiterbildungen teilnehmen und bekämen diese deutlich häufiger von Arbeitgebern finanziert. Besonders nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung bekäme fast jede dritte Frau eine neue Stelle, für die sie jedoch eigentlich überqualifiziert sei. Diese Unterschiede im Lebenslauf der Geschlechter ziehen sich bis zur Rente und wirken sich insbesondere auf die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen negativ aus.
Gender Gap, Indikatoren und ihre Zahlen
Der Gender Pay Gap gibt an, wie groß der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist. Er ist ein wichtiger Indikator für die Gleichstellung, denn Männer verdienen im Schnitt immer noch deutlich mehr als Frauen. Dabei wird zwischen dem bereinigten und dem unbereinigten Gender Pay Gap unterschieden.
Die unbereinigte Lohnlücke ist der Unterschied zwischen dem Bruttoverdienst von Mann und Frau. Diese betrug im vergangenen Jahr 18 Prozent. Bei der bereinigten Lohnlücke hingegen werden strukturelle Faktoren berücksichtigt, wie die unterschiedlichen Branchen, Beschäftigungsumfang, Bildungsstand und die geringere Anzahl von Frauen in Führungspositionen. Im Jahr 2022 lag diese bei sieben Prozent, was bedeutet, dass Frauen bei gleicher Tätigkeit und gleichem Arbeitsaufwand immer noch weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.
Der Gender Care Gap wird als die unterschiedliche Zeitverwendung von Männern und Frauen für Care-Tätigkeiten in Prozent definiert und bringt die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zum Ausdruck. Care-Arbeit umfasst alle unbezahlten Arbeiten im Haushalt, sowie bezahlte und unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeiten. Der Care Gap bezieht sich dabei vor allem auf die unbezahlte Care-Arbeit.
Der Gender Care Gap spiegelt demnach den relativen Unterschied der durchschnittlichen täglichen Zeitverwendung für unbezahlte Care-Arbeit von Männern und Frauen wieder.
Je höher der Gender Care Gap, desto höher ist die durchschnittliche Zeitverwendung für die Care-Arbeit der Frauen im Vergleich zu der der Männer. Ein positiver Wert zeigt an, dass die Frau mehr Arbeit verrichtet, ein negativer Wert spricht für Mehrarbeit des Mannes.
Werden Frauen abgehängt?
„Noch immer verdienen Frauen weniger Geld in ihren ausgewählten Berufszweigen und dann ist, mit Blick auf die eigene Familienplanung, klar, dass sie kürzer treten muss, weil Mann mehr verdient“, so Bäcker. Der Gender Pay Gap und der Gender Care Gap sind wichtige Indikatoren für Gleichstellung von Frau und Mann. Während der Gender Pay Gap zum Berufseinstieg quasi noch nicht vorhanden ist, wird der Verdienstunterschied von Frau und Mann mit höherem Alter immer größer. In der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen besteht ein Unterschied von 27 Prozent.
Wie in der Grafik zu sehen, ist der Gender Care Gap dauerhaft stark erhöht. In der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen ist er am höchsten. Hier leisten Frauen 80 Prozent mehr Care-Arbeit als Männer. Dies ist vor allem auf die Familiengründung zurückzuführen, die häufig in diesem Lebensabschnitt stattfindet.
„Es fehlt die Anerkennung und Wertschätzung“
Gerade in traditionellen Männerberufen und Betrieben sei die Umsetzung von gleichberechtigter Care-Arbeit problematisch, betont die Beraterin: „Denn es wird so erwartet, weil es immer so gewesen ist.“ Gleichzeitig fehle die Anerkennung der unbezahlten Care-Arbeit, die Frauen zuhause leisten. „Ein Beispiel dafür ist auch die im vergangenen Jahr viel debattierte Bezeichnung ‚Vaterschaftsurlaub‘. Man bekommt ein Kind und ist zuhause.“ Das führe dazu, dass das, was Frau leistet, häufig mit Urlaub assoziiert werde und „das sagt ganz viel über die Wertschätzung der Care-Arbeit aus“, so Bäcker.
Besonders der Wiedereinstieg sei oftmals eine Herausforderung, betont Beraterin Bäcker: „Das, was Frau zuhause vielleicht sogar mehr geleistet hat, als sie in den ein bis zwei Jahren auf der Arbeit geleistet hätte, wird häufig ignoriert, weil es unbezahlte Arbeit ist.“ Das habe zur Folge, dass sich Frauen häufig doppelt beweisen müssen, wenn sie zurückkommen.
Ist Ungleichstellung nur eine Frage der Branche und Position?
Die ungleiche Verteilung der Geschlechter spiegelt sich nicht nur in der Care-Arbeit wieder, sondern auch über ungleiche Bezahlung in der Berufswelt. Zwar nimmt der Gender Pay Gap langsam ab, doch der Verdienstunterschied steigt, je länger Arbeitnehmer im Dienst sind.
Auch die Branche spielt eine Rolle bei der Ungleichstellung von Frauen und Männern. So lag der Gender Pay Gap im Baugewerbe im Jahre 2014 bei 13 Prozent, schwankte in den folgenden Jahren und ist nun bei zwölf Prozent. Im Wirtschaftszweig Erziehung und Unterricht ist eine deutliche Verbesserung erkennbar. So lag der Wert 2014 ebenfalls bei 13 Prozent, im vergangenen Jahr jedoch nur noch bei neun Prozent.
Obwohl Frauen in Deutschland inzwischen fast die Hälfte der Erwerbstätigen insgesamt ausmachen, sind nur 29 Prozent der Führungskräfte weiblich.
Im Baugewerbe gibt es mehr als siebenmal so viele Männer in Führungspositionen wie Frauen – und letztere werden auch noch deutlich schlechter bezahlt. Der Gender Pay Gap liegt hier bei 86 Prozent.
Hinzu komme mit Blick auf die Position im Unternehmen das Phänomen der gläsernen Decke, so Bäcker. „Das hat zur Folge, dass sich Frauen in gleichen Positionen deutlich mehr beweisen müssen als ihre männlichen Kollegen.“
Der Weg vom Familienernährer-Modell hin zu mehr Gleichberechtigung?
Immernoch haben traditionelle Geschlechterrollen einen starken Einfluss auf die Lebensrealität und den Lebenslauf eines Individuums. So hatte der Mann in Deutschland bis 1958 das alleinige Bestimmungsrecht über seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder. Eine Frau durfte nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten, und selbst wenn er dies erlaubte, stand ihm die Verwaltung ihres Lohns zu.
Doch das allein ist nicht die Ursache für die Ungleichstellung der Geschlechter. Nach Einschätzungen von Julia Bäcker seien die Bedingungen auch heute in der Familie häufig sehr traditionell. Zudem erklärt sie: „Corona hat uns auch nochmal zurückgeworfen. Zu Beginn haben die Männer mitgezogen, haben ebenfalls von zuhause gearbeitet, aber dann ist man vermehrt in die klassischen Rollen zurückgefallen, weil beispielsweise Kitas lange zu waren. Da waren es die Frauen, die aufgrund des geringeren Einkommens zuhause geblieben sind und die unbezahlte Care-Arbeit übernommen haben.“
Einen starken Einfluss haben außerdem gesellschaftliche Normen, sowie Politik und Gesetzgebung. Lange Zeit diente das klassische „Familienernährer-Modell“ als Orientierung für staatliche Regelungen, Institutionen und Kultur. Das bedeutet, ein Partner – meist der Mann – sorgt für den Unterhalt der Familie, währenddessen kümmert sich der andere Partner – in der Regel die Frau – um unbezahlte Sorgearbeit wie Kindererziehung und Haushalt. Das führt jedoch zu einer finanziellen Abhängigkeit der Frauen und erschwert es dem Alleinverdiener, im Haushalt zu unterstützen.
„Der Gender Pay Gap muss verschwinden, soziale Arbeit muss höher entlohnt und angepasst werden“, betont Bäcker. Gleichzeitig sieht sie viel Potential für eine Besserung der Gleichberechtigung im Familien- und Arbeitskontext. Staatliche Maßnahmen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) könnten hier förderlich sein und die Möglichkeiten verbessern. Die Dringlichkeit dieser Maßnahmen zeichne sich laut Bäcker besonders im ländlichen Raum ab.
„Frauen sollten ihre Chance nutzen und Rollenbilder durchbrechen“
Schon in der Sozialisation in den jungen Kindesjahren werden die Rollenbilder vermittelt und das eigene Selbstbild beeinflusst. Häufig zeigt sich später dann in der Beratungstätigkeit, dass die Frauen glauben, mit ihren Herausforderungen und Problemen alleine zu sein. Das Beispiel der 44-jährigen Dresdnerin versteht Bäcker daher als „wichtigen Schritt in Richtung der notwendigen Gleichstellung zwischen den Geschlechtern“.
Insbesondere mit Blick auf den Zusammenhang von Führungspositionen, Gender Care Gap und Gender Pay Gap zeichnet sich noch immer eine starke Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ab. Staatliche Maßnahmen, wie die Frauenquote und der Ausbau von Kitas, sowie gerichtliche Prozesse wie der in Dresden zeigen, dass ein Wandel stattfindet. Weg vom traditionellen Rollenbild – hin zum gleichberechtigten „Erwerb-und-Sorge-Modell“.