„Das Wahlergebnis im Herbst ist durchaus Grund zur Hoffnung“

Interview mit dem Deutschlandradio-Korrespondenten Peter Sawicki über den politischen Wandel in Polen

von Stefan Herbst und Felix Giltmann

Acht Jahre war die national-konservative PiS (Prawo i Sprawiedliwość, „Recht und Gerechtigkeit“) an der Macht, Ende 2023 gab es den Regierungswechsel. Die KO (Koalicja Obywatelska, „Bürgerkoalition“), angeführt von Ministerpräsident Donald Tusk, will Polen wieder in eine andere Richtung lenken. Dass dies nicht einfach wird, ist bereits jetzt zu spüren.
 
Wir sprachen mit Journalist und Polen-Korrespondent Peter Sawicki über die komplexe Machtstruktur in Polen, die Herausforderungen für die neue Regierungskoalition und werfen einen Blick auf die anstehende Europawahl im Juni 2024. Es stellt sich die Frage: Gelingt der Weg zurück zur Demokratie?
Statue der Warschauer Seejungfer; Foto von Bianca Fazacas auf Unsplash.

Herr Sawicki, in Europa ist aktuell ein allgemeiner Rechtsruck spürbar. Wieso hat Polen mit der Parlamentswahl 2023 wieder einen liberalen Weg eingeschlagen?

Die Unzufriedenheit wuchs, insbesondere unter jungen Menschen. Es gab eine Vielzahl an Faktoren, die die Leute außerhalb der harten Kernwählerschaft der PiS dazu mobilisiert haben, wählen zu gehen. Besonders die hohe Inflation und die Auswirkungen der politischen Entscheidungen auf Europaebene trugen dazu bei, wie etwa die Blockade der vielen Milliarden Euro, die mittlerweile freigeschaltet worden sind.

Interviewpartner Peter Sawicki

Trotzdem kam die PiS wieder auf die meisten Stimmen. Könnte man nicht annehmen, dass der politische Wille des Großteils der Polen gar nicht widergespiegelt wird?

Etwa 35 % stimmten für die PiS, das heißt eben 65 % der Bevölkerung wollten eine Veränderung. Selbst Rechtsaußen-Wähler wollten PiS nicht mehr in der Regierung sehen. Insofern kann man sagen, dass eben ein Großteil der Bevölkerung diese Regierung abgewählt haben wollte.

Was verspricht die PiS den Bürger*innen, um regelmäßig solch hohe Wahlergebnisse zu erzielen?

Die PiS versprach die Revision der Rentenalterserhöhung und die Einführung von Kindergeld. Zudem schuf sie eine stabile Wirtschaft und erhöhte die Renten. Der erhöhte Wohlstand gab zum Beispiel der Mittelschicht Polens wenig Grund, eine andere Partei als die PiS zu wählen, wenn sie denn überhaupt wählen gegangen sind. Böse Zungen behaupten, Teile der Bevölkerung haben sich korrumpieren lassen. Umgekehrt muss man anerkennen, dass die erhöhten Renten und das Kindergeld das Leben vieler Menschen verbessert und stabiler gemacht hat. Außerdem profitierte die PiS davon, dass die Opposition nach der Wahl 2015 am Boden war und es dauerte, sich politisch neu zu sortieren. Erschwert wurde das Ganze natürlich durch die Einverleibung und stetige Übernahme von vielen staatlichen Einrichtungen, unter anderem der öffentlichen Medien, die juristisch gesehen ein Staatsunternehmen sind.
Diese enorme Propaganda zugunsten der Regierung hat natürlich auch ihren Teil dazu beigetragen. Und alles zusammengenommen hat das zu dieser Untermauerung der Macht von PiS geführt.

„Die Lage ist etwas chaotisch und uneinheitlich.“

Was waren die Gründe dafür, dass Polen von der EU sanktioniert wurde?

Brüssel sperrte Gelder aufgrund von Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien, nachdem die Europäische Union zuvor lange nicht tätig geworden war. Die Gelder wurden später teilweise wieder freigegeben, auch wenn die Umstrukturierungen der Justiz noch längst nicht alle wieder rückgängig gemacht worden sind. Da zeigte die EU Zuversicht, dass es mit der KO wieder in die richtige Richtung geht.

Was waren die konkreten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit

Zum einen die Umstrukturierung des Verfassungsgerichts, zum anderen die rechtswidrige Ernennung von Juristen in hohen Positionen, Staatsanwälten und Richtern, wie vom europäischen Gerichtshof festgestellt. Zudem die starke Position des Justizministers, der gleichzeitig auch noch Generalstaatsanwalt ist. Außerdem gab es bestimmte Gesetze, die Richter sanktionierten, wenn diese sich den neuen Regelungen widersetzt hatten. Es gab bekannte Fälle, in denen Richtern die Gehälter gekürzt wurden, da ihnen politisch motivierte Vergehen vorgeworfen wurden.

Kann man in Polen noch von einer unabhängigen Justiz sprechen?

Die Lage ist etwas chaotisch und uneinheitlich. Das Verfassungsgericht ist der abgewählten Regierung nach wie vor treu ergeben und wird von der aktuellen Regierung gewissermaßen ignoriert. Es herrscht Uneinigkeit und Unklarheit darüber, welche Gerichte und Richter politisch unabhängig sind und welche nicht. Viele Richter, Staatsanwälte und Assessoren wurden unter irregulären Bedingungen ernannt, was zu praktischen Problemen führte, da sie nicht pauschal entlassen werden können, ohne das Rechtssystem zu gefährden. Einige Gerichte und Juristen haben es bereits erfolgreich geschafft, sich diesen Umstrukturierungen zu widersetzen. Es wird weiterhin Schritt für Schritt versucht, eine einheitlichere rechtliche Situation herzustellen und die Umstrukturierungen rückgängig zu machen, obwohl dies ein komplexer und herausfordernder Prozess ist.

Die Pressefreiheit in Polen hat sich unter der PiS-Regierung drastisch verschlechtert. Woran liegt das?

Die Regierung hat die öffentlichen Medien übernommen und politisiert, wodurch eine einseitige Berichterstattung entstand. Die Opposition und politische Gegner wurden diffamiert, während die damalige Regierung durchgehend gelobt und eigentlich nicht kritisiert wurde. Öffentliche Medien wurden genutzt, um persönliche Tragödien politischer Gegner zu instrumentalisieren und sie mit Vorwürfen zu konfrontieren, um ihre politische Glaubwürdigkeit zu untergraben. Außerdem versuchte die Regierung, auch private Medien zu beeinflussen und zu kontrollieren, entweder durch finanziellen Druck, juristische Verfahren oder den Aufkauf regionaler Medien und ihre Umwandlung in Parteiblätter.

„Der Prozess wird sicherlich noch eine Weile dauern.“

Besteht die Möglichkeit, dass die Regierung unter Donald Tusk erneut versucht, Einfluss auf die Medien zu nehmen?

Es wird eine Herausforderung sein, diesen Einfluss zu begrenzen und die öffentlichen Medien unabhängig zu halten. Es wird Zeit brauchen, rechtliche und politische Maßnahmen umzusetzen, um die Unabhängigkeit der Medien zu gewährleisten, da sie formal gesehen Staatsunternehmen sind. Um dies zu ändern, müssten wiederum einige Gesetze verabschiedet werden, die dann jedoch vom PiS-nahen Staatspräsidenten Andrzej Duda blockiert werden würden. Allerdings wird es garantiert keine aggressive Rhetorik und Verunglimpfung gegenüber politischen Gegnern mehr geben. Dabei wird es entscheidend sein, dass man die Einflussmöglichkeiten auf die öffentlichen Medien so stark begrenzt, dass selbst bei einem erneuten Regierungswechsel in vier Jahren eine Basis herrscht, die sich nicht schon wieder komplett verändert. Der Prozess wird sicherlich noch eine Weile dauern.

Was sind die zentralen Versprechen der neuen Regierung für Polen?

Es gibt zwar unterschiedliche politische Ziele zwischen den Parteien innerhalb der Koalition, insbesondere zwischen der Bürgerkoalition, der Linken und dem Dritten Weg, aber sie sind sich alle darin einig, die PiS zu entmachten und den Staat zu reparieren. Die KO ist sich einig darin, staatliche Einrichtungen wie die Medien zu reformieren, in der Außenpolitik aktiver zu werden und bestimmte soziale Projekte voranzutreiben. So gab es bereits Veränderungen in der Bildungspolitik und Fortschritte bei der Rückkehr zur staatlichen Finanzierung bestimmter Bereiche. Auch in der Thematik Grenzschutz herrscht grundsätzlich Einigkeit. Insbesondere die aktuelle politische Lage und der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat zu einer anderen Perspektive auf die Sicherheitslage geführt, sodass der Fokus auf einer verstärkten Sicherung der Grenze zu Belarus liegt.

Präsident Duda könnte sich weiterhin gegen die neue Regierung stellen. Was wurde bisher blockiert, und wird das so bleiben

Präsident Duda hat zunächst die Machtübergabe verzögert. Er hatte die neue Regierung zwar vereidigt, ihre Legitimität aber nicht vollständig anerkannt. Der Präsident blockierte bestimmte Gesetze, wie zum Beispiel die rezeptfreie Abgabe der “Pille danach” und Gesetze zur Rückgängigmachung der Justizreform. Nach den Europawahlen wird der Fokus auf den Präsidentschaftswahlkampf gerichtet, wobei die Regierung einen Wechsel im Präsidentenpalast anstrebt, um ihre Politik sozusagen vollenden zu können. Bis dahin versucht die KO zwar weiter, wichtige Gesetze zu verabschieden, um Ergebnisse vorweisen zu können, es wird aber erwartet, dass Duda die meisten davon blockieren wird.

„Es ist wichtig, dass fähige und talentierte Menschen bewusst in die Politik gehen, um zu gestalten.“

Wie könnte die Europawahl das politische Kräfteverhältnis in Polen beeinflussen?

Wenn man die Ergebnisse der Kommunal- und Regionalwahlen zugrunde legt, dann offenbart sich ja eine Bekräftigung der politischen Machtverhältnisse. Das würde bedeuten, dass die PiS bei der bevorstehenden Europawahl schwächer abschneiden wird. Die Bürgerplattform hat das Ziel, stärkste Kraft zu werden und eine aktuelle Umfrage deutet darauf hin, dass sie dazu in der Lage sein könnte. Es könnte aber durchaus auch sein, dass das Ergebnis ähnlich oder möglicherweise enger sein wird als bei den Parlamentswahlen im Herbst, was darauf hindeutet, dass der erwartete Rechtsruck zumindest auf polnischer Seite ein bisschen abgefedert wird. Alles in allen wird das Ergebnis in Polen vermutlich nicht den europäischen Trend widerspiegeln, zumal wir heute noch nicht sicher sagen können, ob die PiS im Vergleich zu heute noch einmal deutlich schlechter abschneiden wird.

Ein Blick in die Zukunft: Strebt Polen in Zukunft eine langfristig gut funktionierende Demokratie an, oder erwarten Sie in den kommenden Jahren einen erneuten Regierungswechsel?

Naja, die Parlamentswahl im Herbst hat deutlich gezeigt, dass die Mehrheit der Wähler eben keine anti-demokratische Regierung haben möchte. Unter den Wählern gibt es nun mal verschiedene gesellschaftspolitische und migrationspolitische Ansichten, was aber nicht gleich mit autokratischen Tendenzen gleichzusetzen ist.
Von daher muss man sich vorerst keine Sorgen machen, dass das hier in eine ganz bestimmte negative Richtung abdriftet, ganz im Gegenteil. Trotzdem wird darauf hingewiesen, dass Enttäuschungen über pragmatische Mitte-Links-Parteien das Interesse an Politik verringern und somit extremistischen Parteien einen Vorteil verschaffen könnten. Das könnte wiederum eine erneute Umstrukturierung des Staates zur Folge haben. Insgesamt wird die Demokratie in Polen als lebendig, dynamisch und mit Entwicklungspotenzial beschrieben, auch wenn sie sich in einem anderen Entwicklungsstadium als die Demokratien in Westeuropa befindet. Ohnehin wird sich das Parteiengefüge in Polen in den nächsten Jahren noch mal verändern, insbesondere wenn Führungspersonen wie Kaczynski und Tusk ihre politische Aktivität einschränken oder beenden. Und gerade dann ist die Hauptherausforderung, Personen für die Politik zu begeistern, die diese auch aktiv mitgestalten wollen. Denn es ist wichtig, dass fähige und talentierte Menschen bewusst in die Politik gehen, um zu gestalten. In dieser Hinsicht gibt es definitiv noch Verbesserungspotenzial in Polen. Aber durch das Wahlergebnis im Herbst ist durchaus Grund zur Hoffnung vorhanden.