Über die Wehrhaftigkeit unseres Systems
von Lisa Obst und Julian Dak
23. Mai 2024: Das deutsche Grundgesetz feiert seinen 75. Geburtstag. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch einen Tag später erscheint ein Video, das einen großen Schatten auf das Jubiläum des Grundgesetzes wirft: Eine Ansammlung von Menschen grölt zur Melodie von „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino Nazi-Parolen wie „Deutschland den Deutschen“ oder „Ausländer raus“.
Ganz Deutschland ist geschockt und das nicht zum ersten Mal in diesem Jahr: Eine Correctiv-Recherche löste zuvor eine immer noch anhaltende Protestwelle aus. So trafen sich Anfang des Jahres mehrere Anhänger der Rechten und Rechtsextemen, darunter auch AfD-Politiker, in Potsdam und planten die Vertreibung von Migrant*innen. Die Alternative für Deutschland (AfD) wird laut Wahlumfragen-Werten die meisten Sitze im Landtag Sachsen innehaben.
Dass rechtspopulistische Parteien immer mehr Gehör finden, ist nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern spiegelt einen europaweiten Trend wider. Seit der Gründung im Jahr 2013 hat die AfD signifikante Wahlerfolge erzielt. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die AfD 12,6 Prozent der Stimmen und wurde damit drittstärkste Partei im Bundestag. Mittlerweile ist die AfD in allen 16 deutschen Landesparlamenten vertreten. Besonders in Ostdeutschland konnte sie hohe Stimmenanteile erzielen, wobei sie bei der Bundestagswahl 2017 in vier der fünf ostdeutschen Länder zweitstärkste Kraft wurde. Doch wie konnte es so weit kommen, dass die Vorzeige-Demokratie aus Deutschland in Gefahr zu schweben scheint?
Alles nur Protestwähler?
„Ich warne jedenfalls davor, die Wahl der AfD noch als Protest zu begreifen. Die Wählerinnen und Wähler wollen diese Partei. Darin besteht der Ernst der Lage“, sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, zum Redaktionsnetzwerk Deutschland. Allein auf Protestwähler*innen ist diese Entwicklung nicht zurückzuführen. Der Politikwissenschaftler Cas Mudde sagt im Interview mit der Zeit: „Menschen wählen nicht populistische Parteien, weil sie glücklich sind. Sie sind unzufrieden damit, wie Dinge laufen. Es hat damit zu tun, dass sie sich politisch nicht mehr vertreten fühlen, dass die etablierten Parteien sie nicht repräsentieren.“ Diese Unzufriedenheit wird durch eine Vielzahl von Faktoren begünstigt, zu denen auch die sinkende Wahlbeteiligung und das mangelnde Vertrauen in die Politik gehören. Laut einer Studie der Körber-Stiftung ist das Vertrauen in politische Parteien dramatisch von 29 Prozent im Jahr 2020 auf nur noch 9 Prozent im Jahr 2023 gesunken. Gründe für dieses Misstrauen liefern einige Skandale der letzten Jahre. Bei der Maskenaffäre sollen sich mehrere Politiker*innen, insbesondere aus der CDU/CSU, durch die Vermittlung von Maskenlieferungen persönlich bereichert haben. Der Cum-Ex-Steuerskandal zog auch politische Kreise in Mitleidenschaft. Insbesondere die Rolle des damaligen Hamburger Bürgermeisters und jetzigen Bundeskanzlers Olaf Scholz wurde kritisch hinterfragt. Fälle wie die Spenden des Immobilienunternehmers Christoph Gröner an die Berliner CDU, und die damit verbundene Einflussnahme, können und haben das Vertrauen in die Parteifinanzierung und die Unabhängigkeit der Politik weiter untergraben. Und bei diesen Skandalen bleibt es nicht: So erschütterten die Graichen-Affäre oder die mutmaßlichen Parteispenden an CSU und SPD aus dem Umfeld einer Schleuserbande das Vertrauen der Bürger*innen.
Rückläufige Wahlbeteiligung
Die Entwicklung der Wahlbeteiligung in Deutschland ist seit den 1980er Jahren tendenziell rückläufig. Bei der Bundestagswahl 2021 lag die Wahlbeteiligung bei 76,6 Prozent, was im historischen Vergleich stabil erscheint, den langfristigen Trend sinkender Wahlbeteiligung jedoch nicht umkehrt. Die Studie „Gespaltene Demokratie“ der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2013 zeigt, dass vor allem einkommensschwache und bildungsferne Teile der Bevölkerung weniger wählen gehen. Die genannten Zahlen und Beispiele verdeutlichen eine mögliche Distanz zwischen der Bevölkerung und den politischen Akteuren, was die Gefahr der Politikverdrossenheit erhöht. So können demokratische Prozesse geschwächt werden, da die gewählten Vertreter nicht mehr das gesamte Spektrum der Gesellschaft repräsentieren.
Bildung, Einkommen, Wohnort – wichtige Kriterien in der Demokratiebewertung?
„Die Schere zwischen Ost und West hat sich weiter geöffnet“, stellt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in ihrer Studie „Vertrauen in Demokratie in Krisenzeiten“ fest. Laut dem Statistischen Bundesamt lag das Jahresbruttogehalt von Vollzeitbeschäftigen im Osten durchschnittlich rund 13.000 Euro unter dem im Westen. Unterstützt wird die These durch ein Conference Paper von Jantsch und Kolleg*innen im Rahmen der 56. Jahrestagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaues e.V. Regionen mit geringerer Arbeitslosigkeit und weniger Einkommensungleichheit zeigen eine höhere Lebenszufriedenheit. Abgesehen vom Einkommen ist die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West auch in weiteren Bereichen noch nicht erfolgt. Generell wird die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer größer. Einkommensungleichheit und Armutsquoten haben laut dem Verteilungsbericht 2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Gerade dauerhaft Arme sind besonders betroffen und schenken den Parteien und Politiker*innen wenig Vertrauen.
Außerdem können regionale und soziale Ungleichheiten zu stärkeren rechtspopulistischen Einstellungen führen. Das zeigt eine Studie der FES anhand des Beispiels Niedersachsens. Dies wird durch die Studie der Universität Hohenheim im Rahmen des Demokratie-Monitorings nochmal unterstrichen. „Knapp jeder Fünfte in Deutschland hat ein rechtspopulistisches Weltbild“, wobei diese Einstellung in Ostdeutschland mit 23 Prozent stärker verbreitet ist als in Westdeutschland mit 17 Prozent.
Schaffen wir das wirklich?
„Wir schaffen das!“: Das waren Angela Merkels berühmte Wort zu den Flüchtlingswellen im Jahre 2015. Mehr als eine Million Flüchtlinge wurde in dem Jahr in Deutschland registriert – Höchststand. In Teilen der Bevölkerung löste die Ängste vor Überfremdung und Identitätsverlust aus, die von rechtspopulistischen Parteien für ihre Zwecke instrumentalisiert wurden. Die AfD stellt zum Beispiel Migration oft als Bedrohung für die deutsche Kultur und Identität dar und spricht von einem Verlust der nationalen Souveränität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Durch die Zuwanderung von Geflüchteten und Migranten soll es zu einer Überlastung der Sozialsysteme und zu einem Anstieg der Kriminalität kommen. Konkret hat die AfD gegen den Bau von Moscheen und die Präsenz von Muslimen in Deutschland mobilisiert, um die Ängste vor einer Islamisierung des Landes zu schüren.
Die AfD scheint Anklang gefunden zu haben, denn insbesondere in den Jahren nach 2015 konnte die Partei erhebliche Wahlerfolge verzeichnen und in alle 16 Landesparlamente sowie in den Bundestag einziehen. Aber auch bei den Bundestagswahlen während der Corona-Pandemie 2021 wurde die AfD in Sachsen und Thüringen die stärkste Partei.
Wie wehrhaft ist unsere Demokratie?
Aber wie gut ist unsere Demokratie im Hinblick auf diese vielen Herausforderungen aufgestellt? Vor allem vor dem geschichtlichen Hintergrund Deutschlands geht der demokratische Staat sensibel mit Flüchtlingsthematiken um. Um die Vergangenheit aufzuarbeiten, spielt die Integration von Geflüchteten eine wichtige Rolle, so John Borneman für die Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im Zuge der Kritik von besorgten Bürger*innen zur Flüchtlingskrise: “Wir schaffen das.” Auch bei dem Umgang mit Ausländerfeindlichkeiten schreitet nicht nur die Politik ein. So beschreibt Bundeskanzler Olaf Scholz die auf Sylt gefilmten Parolen als “ekelig” und “nicht akzeptabel.” Aber auch die Öffentlichkeit zieht mit. Neben zahlreichen Protesten gegen die im Video dargestellte Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremistischen Aktionen verbieten jetzt Großveranstalter wie die des Oktoberfests in München das Lied „L’amour toujours“, um nicht zur Nachahmung zu motivieren.
Und wie geht die Demokratie mit Gefahren durch bestimmte Parteien um? Das Konzept der “wehrhaften Demokratie” ermöglicht es, Parteien und Organisationen zu verbieten, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen. Dieses Instrument wurde in der Vergangenheit mehrfach angewandt, beispielsweise beim Verbot der rechtsextremen sozialistischen Reichspartei 1952. So wurde auch Anfang dieses Jahres die AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Allerdings ist die Hürde für ein Parteiverbot sehr hoch, da die Meinungs- und Parteienfreiheit ebenfalls im Grundgesetz geschützt ist. Am Ende kann auch jeder Bürger selbst aktiv werden und sich organisieren. Im Zuge der Correctiv-Recherche und des Sylt-Videos mobilisieren sich immer mehr Menschen und gehen auf die Straße, um zu demonstrieren. Auch Prominente schließen sich an und nutzen ihre Reichweite. KIZ und Kraftklub veranstalten Konzerte und verkauften Shirts. Der sämtliche Erlös geht an antifaschistische Gruppen.
Und jetzt?
Die deutsche Demokratie steht vor erheblichen Herausforderungen, die durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt sind. Der Aufstieg der AfD, die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit etablierten Parteien und die sinkende Wahlbeteiligung sind Symptome einer tieferliegenden Krise des Vertrauens in politische Institutionen. Skandale und Korruptionsvorwürfe haben das Vertrauen weiter untergraben, während soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten die gesellschaftliche Spaltung vertiefen. Die Flüchtlingskrise von 2015 und die Corona-Pandemie haben zusätzliche Spannungen erzeugt, die von rechtspopulistischen Parteien instrumentalisiert wurden, um Ängste und Ressentiments zu schüren. Trotz dieser Herausforderungen zeigt sich die deutsche Demokratie jedoch auch wehrhaft: Maßnahmen wie das Verbot extremistischer Parteien und die öffentliche Verurteilung von Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremistischen Aktionen sind Beispiele für den Versuch, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. Dennoch bedarf es weiterer Anstrengungen, um die wachsende Spaltung zu überwinden und das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen. Reformen zum Abbau sozioökonomischer Ungleichheiten, Investitionen in Bildung und Integration sowie eine offene Debattenkultur, die Polarisierungen entgegenwirkt, spielen dabei eine entscheidende Rolle.