von Anton Steinmann aus dem Master-Modul „Projekt International“
Nachrichtenvermeidung ist zu einer der größten Herausforderungen für den modernen Journalismus geworden. Die Hauptgründe hierfür scheinen zunächst offensichtlich. Dass die jüngere Generation Nachrichten, wenn überhaupt, fast nur noch in den sozialen Medien konsumiert, ist kein Geheimnis. Hinzu kommen die Krisenzeiten, in denen wir leben. Allein durch die Corona-Pandemie und das Aufflammen der Kriegsherde in der Ukraine und im Nahen Osten hat das Aufkommen an schlechten Nachrichten in den vergangenen fünf Jahren so sehr zugenommen, dass einige Menschen sich dazu gezwungen fühlen, den Nachrichten, so gut es geht, zu entfliehen. Trotz aller Krisen gibt es Dinge, die Journalisten selbst an ihrer Arbeit ändern können, um wieder mehr Menschen mit ihren Produktionen zu erreichen.
„Die Nachrichten betreffen auch dich!“ Mögliche Lösungen für das Problem der Nachrichtenvermeidung
Ellen Heinrichs, CEO und Gründerin des Bonn Instituts und Nic Newman vom Reuters Institute for the Study of Journalism haben auf dem International Journalism Festival 2024 in Perugia sieben Strategien vorgestellt, die hilfreich sein können, die zunehmende Nachrichtenvermeidung, die schon länger ein internationales Problem darstellt, wieder zu senken. Nach dem Vortrag durfte ich mit Frau Heinrichs zudem noch ein Interview zu dem Thema führen.
Die Speaker:
Ellen Heinrichs
– Gründerin und CEO des Bonn Instituts (Plattform für konstruktiven Journalismus)
– frühere Stationen:
Rheinische Post und Deutsche Welle
Nic Newman
– Senior Research Fellow am Reuters Institute for the Study of Journalism
– leitender Autor des dort jährlich erscheinenden Digital News Reports
„Journalisten setzen oft, wenn auch gar nicht mit böser Absicht, viel zu viel Vorwissen voraus“
Die im Vortrag als erstes vorgestellte, und laut einer Umfrage (Abb. 1) des Reuters Institutes auch von Journalisten als am wichtigsten empfundene Strategie, ist die der Simplifizierung von Nachrichten allgemein. Heinrichs sagte dazu: „Journalisten setzen oft, wenn auch gar nicht mit böser Absicht, viel zu viel Vorwissen voraus, sie beschäftigen sich nun mal Tag ein, Tag aus mit Nachrichten. Ich glaube, dann ist man sozusagen unwillkürlich voreingenommen im Blick auf den Kenntnisstand anderer.“ Sie macht Journalisten also nicht den Vorwurf, zu kompliziert zu schreiben, rät ihnen allerdings, die Nachrichten häufiger doch etwas einfacher zu halten. Newman zitierte zur Verdeutlichung des Themas den BBC-Journalisten Ros Atkins: „Dinge wegzulassen, ist genauso wichtig, wie Dinge hineinzuschreiben.“ Als Praxisbeispiel nannten die Vortragenden unter anderem den Newsletter „the knowledge“ aus dem Vereinigten Königreich, der innerhalb von 18 Monaten seine Leserzahl auf ca. 250.000 verdoppeln konnte. Newman kommentierte das Konzept mit: „Du hast fünf Minuten und dann das befreiende Gefühl, mit den Nachrichten für heute fertig zu sein.“
Lösungsjournalismus und zunehmend positive Nachrichten als Zukunftsmodell
Wie bereits erwähnt, sind die aktuellen Krisenzeiten ein enormer Verstärker für das Problem der Nachrichtenvermeidung. Dagegen könnte also helfen, vermehrt positive Nachrichten zu implementieren. Auf die Frage, warum man damit eigentlich nicht früher schon angefangen habe, antwortete Ellen Heinrichs: „Weil Journalisten eigentlich eine traditionelle Berufsauffassung dahingehend haben, dass sie eben dafür da sind, das aufzudecken, was nicht funktioniert. Dementsprechend fokussieren sie sich hauptsächlich auf die negativen Entwicklungen. Das hat aber auch damit zu tun, dass man nach dem 2. Weltkrieg gesagt hat, man muss den Mächtigen auf die Finger gucken. Und dabei hat man vernachlässigt zu sagen, für die Menschen, für die wir arbeiten, ist eben auch relevant, wenn mal was geklappt hat. Doch gerade in unseren heutigen Zeiten merkt man eben: Für die Menschen ist es extrem wichtig, auch zu erzählen, wo gerade daran gearbeitet wird, Missstände zu beseitigen.“ Daher stellten die Vortragenden unter anderem auch den TikTok- und Instagram-Kanal von Alaina Wood vor, auf dem die Britin versucht, den Menschen mit positiven Stories rund um die Klimakrise Hoffnung zu geben.
„Unsere Nutzer sind nicht bloß Nutzer, sie sind Menschen“
Die nächsten zwei Strategien, die Heinrichs und Newman in Perugia vorstellten, sollten sich besonders darum drehen, mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer einzugehen. „Unsere Nutzer sind nicht bloß Nutzer, sie sind Menschen“, leitete Ellen Heinrichs das Thema ein. Sie führte daraufhin ein Beispiel des City Newsrooms von New York an, welcher einen Online-Artikel veröffentlichte, der besonders für seine Zielgruppe wichtig sein sollte. Allerdings waren sehr viele dieser Menschen nicht über das Internet erreichbar. Um diese Menschen trotzdem mit den für sie sehr wichtigen Informationen zu versorgen, verschickte die Stadt Postkarten mit einem Hinweis auf den entsprechenden Artikel. Gleichzeitig testete die Redaktion die Wirkung von Facebookanzeigen zum selben Thema. Und tatsächlich waren die Postkarten wirkungsvoller. Die zweite Strategie bezieht sich darauf, dem Publikum zuzuhören und darauf zu reagieren. „Das scheint offensichtlich“, sagte Newman lächelnd, fügte aber hinzu, dass es wirklich häufig große Unterschiede zu dem gäbe, was die Nutzer sich bezüglich der Agenda und der Tonalität der Nachrichten wünschen. Als Praxisbeispiel nannte er sogenannte listening exercises, wie sie zum Beispiel kürzlich die Huffington Post durchgeführt hat. Dabei handelt es sich um Treffen, bei denen Nachrichtenvermeider den Redakteuren persönlich mitteilen können, welche Themen sie besonders interessieren.
Neue Arten der Nachrichtenpräsentation
Strategie fünf und sechs behandeln die Erschaffung neuer Nachrichtenformate. In ersterer geht es ausschließlich um digitale Formate. Newman leitete das Thema mit der aus Recherchen des Reuters Instituts gewonnen Erkenntnis ein, dass es vielen Menschen schwerfalle, Texte auf dem Smartphone zu lesen, und sie daher viel häufiger Audio-, vor allem aber Videoformate konsumieren. Das erste Beispiel hierzu kommt aus Frankreich. So hat die Zeitung „Le Monde“ ein Team etabliert, in das nur Menschen im Alter zwischen 24 und 32 eingestellt werden. Dieses Team produziert Nachrichten als Kurzvideos unter der Verwendung von künstlerischen Elementen wie z.B. Memes, Zeichnungen, oder Videospielsimulationen. Etwas Ähnliches hat sich auch die Tagesschau mit dem Kurzvideoformat „Akkurat“ aufgebaut, in welchem ausschließlich Themen aus dem Alltag der jüngeren Zielgruppe aufgegriffen werden. Die sechste Strategie widmet sich dem Anliegen, die politische Berichterstattung konstruktiver zu machen. Heinrichs erzählte dazu: „Vor einiger Zeit sah ich einen Polit-Talk im Fernsehen und plötzlich fragte mich meine Tochter: ‚Mama, warum schreien die sich alle so an?‘“. Als gutes Beispiel führte sie die ZDF-Sendung „13 Fragen an“, in der ein sehr sorgfältig ausgewählter Kreis an Akteuren, der zudem eine Vielfalt an Meinungen und gesellschaftlichen Hintergründen abbildet, konstruktiv über ein politisches Thema diskutiert.
„Es ist an der Zeit, umzusteuern“
Die letzte Strategie ist in der bereits angesprochenen Journalisten-Umfrage vom Reuters-Institut mit einer Zustimmung von 43 Prozent als die drittwichtigste bewertet worden. Hierbei geht es darum, emotionale und sehr persönliche Geschichten in den Nachrichten zu teilen. So stellte Ellen Heinrichs z.B. eine Story vor, in der die New York Times zeigte, wie Kinder aus Israel und Palästina zusammen in einem Pool schwimmen, wie sie es auch schon vor dem Kriegsbeginn am 7. Oktober getan haben. Auf die Frage, warum auch diese Art der Berichterstattung bisher noch keine Rolle gespielt habe, sagte sie: „Das hat eben auch was damit zu tun, dass Journalisten lange Zeit der Auffassung waren, dass je distanzierter sie berichten, desto neutraler sind sie und als desto objektiver gelten sie auch. Das hat allerdings dazu geführt, dass Leute zunehmend das Gefühl haben, die Nachrichten haben nichts mit ihrem persönlichen Leben zu tun. Und insofern, das war ja Anlass unseres Vortrages, ist es jetzt an der Zeit, umzusteuern, und zu sagen, wir müssen stärker auch Geschichten erzählen, die wirklich mit den Menschen zu tun haben und sehr große Probleme auch auf die menschliche und die lokale Ebene herunterbrechen. Die Menschen sollen z.B. im Hinblick auf die Klimakrise eben verstehen: Es geht nicht um ein abstraktes 1,8 Grad-Ziel, sondern es geht hier um deinen Acker vor Ort und ob du da noch ernten kannst. Die Nachrichten betreffen auch dich!“
Die 7 Strategien zur Bekämpfung von Nachrichtenvermeidung im Überblick
1. Nachrichten möglichst einfach und verständlich halten
2. (häufiger) positive Nachrichten etablieren
3. Communities berücksichtigen / diverse(re) Newsrooms aufbauen
4. Sich den Bedürfnissen der Leser-/Hörer-/Zuschauerschaft anpassen
5. Kreative, digitale Formate etablieren
6. Politische Berichterstattung (konstruktiv) neu denken
7. Bewegende, persönliche Geschichten aus dem Alltag der Menschen erzählen