Verdeckte Altersarmut spart Staat 2 Milliarden Euro

Warum trotz der Grundsicherung immer noch 3,2 Millionen Rentner armutsgefährdet sind

Jeder Schritt ist schwer. Sie dreht sich immer wieder um. Der Blick wandert über den Fußweg, über die vorbeigehenden Leute. Sieht sie jemand? Ihr fällt ein Stein vom Herzen, als das Surren an der Tür ertönt und sie eintreten kann. Ein letzter Blick zur Straße, ob sie jemand gesehen hat. Gisela hat
Angst, Angst vor der Verurteilung durch ihre Nachbarn, ihre alten Bekannten oder Arbeitskollegen. Trotz ihrer Rente hat Gisela nicht genug Geld zum Überleben. Daher muss sie wie viele deutsche Rentner:innen über 64 Jahre die Grundsicherung beim Sozialamt beantragen.

Obwohl viele ältere Menschen in Deutschland das zusätzliche Einkommen durch die Grundsicherung in Anspruch nehmen könnten, bleibt ein Ansturm auf die Ämter aus. Die Studie „Wer bezieht Grundsicherung im Alter? Eine empirische Analyse der Nichtinanspruchnahme“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Forschungsnetzwerks Altensicherung des Deutschen Rentenversicherung Bundes aus dem Jahr 2019, die unter anderem von Professor Dr. Peter Haan verfasst wurde, beschäftigt sich mit diesem Thema. Sie zeigt durch jahrzehntelange, wiederholte Befragungen, dass etwa 60 Prozent der Berechtigten über 64 Jahren keine Grundsicherung in Anspruch nehmen. Vor allem ältere Rentner*innen ab 77 Jahren nehmen ihre Grundsicherung kaum wahr. Dies deutet auf eine hohe, verdeckte Altersarmut hin, die kaum in der Politik berücksichtigt wird.

Wie gestaltet sich die Grundsicherung in Deutschland?

Zunächst hatte sich der Staat durch die Einführung der Grundsicherung im Jahre 2003 eine Steigung der Inanspruchnahme zum Vorgängermodell erhofft, um so die verdeckte Altersarmut zu verhindern. Die bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherungsleistung kann durch einen Antrag für 12 Monate gestellt werden. Hierfür wird das Vermögen und Einkommen der Person selbst und des Partners oder der Partnerin geprüft. Neu seit der Umstellung ist, dass das Einkommen der Kinder, falls es weniger als 100.000 Euro im Jahr beträgt, nicht berücksichtigt wird. Die Veränderungen haben auf den ersten Blick zunächst gewirkt: Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Dezember 2019 hatten sich im Jahr 2019 die Zahlen auf 566.000 Haushalte im Vergleich zum Jahr 2003 verdoppelt.

Doch beim näheren Hinschauen kann erkannt werden, dass viele Haushalte mit Menschen über 64 Jahren mit speziellen Merkmalen ihre Unterstützung nicht in Anspruch nehmen. Auffällig ist, dass vor allem die Anspruchshöhe bei den Berechtigten eine große Rolle spielt. Wenn die finanzielle Unterstützung unter 200 Euro liegt, nehmen nur 20 Prozent der deutschen Rentner diese in Anspruch. Positiv ist, je höher der Betrag ist, desto geringer werden die Zahlen der Rentner:innen, die die Leistung nicht in Anspruch nehmen. So nehmen 80 Prozent der Rentner die Unterstützung bei über 600 Euro an.

Ein weiteres Merkmal ist der Bildungsstand der Berechtigten. Ist der Bildungsgrad der Rentner über 65 Jahre hoch, nehmen nur 44 Prozent die Grundsicherung nicht in Anspruch. Schaut man jedoch in die unteren Bildungsschichten, so steigt die Nichtinanspruchnahme auf 66 Prozent. 

Doch wie entsteht so ein gravierender Unterschied und warum nehmen die Menschen die Hilfe des Staates nicht an?

Laut der Studie „Wer bezieht Grundsicherung im Alter? Eine empirische Analyse der Nichtinanspruchnahme“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Forschungsnetzwerks Altensicherung des Deutschen Rentenversicherung Bundes aus dem Jahr 2019 sei einer der Gründe, wieso Berechtigte im hohen Alter keine Unterstützung beantragen, die Unwissenheit über die Leistung an sich und das Verfahren. Außerdem erscheint die Beantragung für viele Menschen als ein zu hoher Aufwand. Das Unwissen spiegelt sich auch in den Zahlen der Berechtigten über 77 Jahren wider. Etwa 75 Prozent nehmen ihre Grundsicherung nicht in Anspruch, wofür Informationsdefiziten verantwortlich gemacht werden.

„Ein anderer wichtiger Grund ist die Stigmatisierung. Die Leute trauen sich nicht, den anderen Menschen zu zeigen, dass sie bedürftig sind, und deswegen nehmen sie die Grundsicherung nicht in Anspruch“, sagt Dr. Peter Haan, Professor an dem DIW Berlin, in einem Wochenberichtsinterview mit seinem Arbeitgeber von Dezember 2019.

Wenn die Betroffenen diese Gründe überwinden könnten, würde sich das Nettoeinkommen der Berechtigten über 64 Jahre im Schnitt um 28 Prozent steigern, das heißt die Rentner hätten im Durchschnitt etwa 220 Euro pro Monat mehr zur Verfügung. Doch durch die Nichtinanspruchnahme von vielen Haushalten spart der Staat etwa 2 Milliarden Euro jährlich, welche vor allem die unteren Einkommensschichten benötigen würden.

Was könnte die Politik und die Gesellschaft tun, um die Situation zu verbessern?

Professor Dr. Haan schlägt eine Vereinfachung des Verfahrens vor. Die berechtigten Rentner sollen vom Amt unterstützt werden und vorausgefüllte Anträge erhalten. Außerdem sei es wichtig, dass die Informationen verbreitet werden und die Prüfungen der Anträge reformiert werden. Hierfür sollte laut Haan auch die Dauer der Grundsicherung verlängert werden, sodass die Anträge nicht, wie bisher, jedes Jahr von Neuem gestellt werden müssen. Zusätzlich sei es ihm wichtig, „dass den Leuten klar gemacht wird, dass es dafür eine Berechtigung gibt, die im Grundgesetzt steht. Jeder Mensch darf es in Anspruch nehmen. Wenn den Leuten dies klar gemacht wird, dann schämen sie sich vielleicht nicht mehr so stark.“

Denn die Grundsicherung hilft Rentnern und Rentnerinnen selbst mit kleinen Beträgen im Alltag weiter. Nicht nur das Einkommen wird so gesteigert, sondern die Anspruchsnehmer erhalten auch Vergünstigungen im Nahverkehr oder im Kulturbereich. Auch die Rundfunkgebühren müssen sie nicht mehr zahlen. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse des DIW Berlin, dass die verdeckte Altersarmut trotz der Einführung der Grundsicherung im Jahr 2003 immer noch erheblich ist und die Politik erwachen sollte, um ihr entgegen zu wirken. So würde nicht nur Gisela, sondern auch viele andere Rentner:innen den Gang zum Sozialamt wagen.

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