Expected goals: Wie ein Daten-Modell den Fußball verändert

von Marvin Hellbusch und Tim Baake

aus dem Modul "Datenjournalismus"

Es läuft die Nachspielzeit auf Schalke. Die Königsblauen führen knapp mit 1:0 gegen Mainz. Bange und zugleich hoffnungsvolle Blicke auf der Tribüne. Gelingt Schalke der erste Sieg nach sieben Niederlagen am Stück? Womöglich hat Marius Bülter genau diese Gedanken im Kopf. Der Angreifer läuft allein auf das gegnerische Gehäuse zu und umkurvt Torwart Robin Zentner. Der Schlussmann streckt sich vergebens, ist bereits geschlagen. Bülter muss nur noch ins verwaiste Tor einschieben. Doch er trifft den Pfosten. Schalke zittert weiter, bringt den Vorsprung aber über die Zeit. Zur Erleichterung Bülters.

Er habe eine „hundertprozentige Torchance“ vergeben, schreiben die „Ruhr Nachrichten“ später – eine häufig verwendete Phrase im Fußball-Jargon. Doch wie veraltet ist die eigentlich? Mittlerweile beweist sogar ein Daten-Modell, dass es nie eine hundertprozentige Sicherheit für einen Treffer geben kann: Die sogenannten „expected goals“. Das Modell bestimmt für jeden Schussversuch eine bestimmte Tor-Wahrscheinlichkeit. Es sagt damit etwas über die Qualität eines Schusses aus. Seit 2020 sind die „expected goals“ offizieller Bestandteil der Bundesliga-Statistiken. Die Auswirkungen solcher neuwertigen Analysedaten sind im Profi-Fußball bereits spür- und ablesbar.

INFO

Für die Berechnung der „expected goals“ (xG) haben Mathematiker:innen knapp 40.000 Schüsse aus unterschiedlichen Positionen ausgewertet. Wie oft entstand aus einer bestimmten Entfernung ein Tor? Aus welchem Winkel kam der Schuss zustande? Erfolgte der Abschluss mit dem starken oder schwachen Fuß? Aus diesen Faktoren werden die Tor-Wahrscheinlichkeiten errechnet. Aufgrund des noch jungen Modells weichen einzelne Werte jedoch leicht ab. Ein Elfmeter hat beispielsweise je nach Statistik-Anbieter einen xG-Wert zwischen 0,75 und 0,77, also eine Tor-Wahrscheinlichkeit von 75 bis 77 Prozent. Das Talentniveau eines abschließenden Spielers kann in diesem Modell jedoch nicht berücksichtigt werden.

Anteil der Weitschusstore gesunken

Unlängst arbeiten vereinseigene Analyseteams mit den „expected goals“ (xG). Der englische Premier-League-Klub FC Brentford ist Vorreiter. Wenn die West-Londoner auf der Suche nach neuen Offensivkräften sind, scouten sie Spieler, die einen besonders hohen xG-Wert haben – unabhängig von der reinen Anzahl an Toren. Besitzer Matthew Benham ist ohnehin ein Zahlen-Fanatiker. Der Multimilliardär gründete das Unternehmen „Smartodds“, das durch statistische Analysen bei Fußball-Wetten helfen soll. In sein komplexes Datensystem baute er u.a. die „expected goals“ ein. Auch Brentford profitiert von diesen Analysen. Der Klub stieg auch dank Benhams Statistik-Modelle von der dritten in die erste Liga auf.

Es ist nicht (mehr) effizient, lediglich eine Vielzahl an Abschlüssen zu sammeln. Vielmehr suchen Analyseteams nach Feldpositionen, wo die Tor-Wahrscheinlichkeit am höchsten ist. Es gibt bessere und schlechtere Abschusspositionen. Auch deshalb ist die Zahl der Weitschusstore in der Bundesliga gesunken. Trockene oder gefühlvolle Fernschüsse werden zur Rarität, etwas für das Poesiealbum. Vor 15 Jahren lag der Anteil der Distanztreffer laut „dpa“ noch bei 18 Prozent – auch durch Weitschuss-Künstler wie Diego oder Mesut Özil. In den letzten beiden Saisons erzielten die Bundesliga-Profis lediglich elf Prozent aller Tore aus der Ferne.

Gute Teams schießen innerhalb des Strafraums

Ist das ein Zufall oder lässt sich etwa ein Muster erkennen? Für Letzteres sprechen Indizien. Seit 2017 misst der Datenlieferant „Opta“ die durchschnittliche Schussentfernung von Bundesligisten. 2017/2018 zogen die Teams im Schnitt aus 16,7 Metern ab, also noch außerhalb des Strafraums. Seitdem sinkt die Entfernung von Jahr zu Jahr. 2019/2020 lag der Schnitt bei 16,3 Metern, während in der vergangenen Spielzeit die Durchschnittsweite 15,7 Meter betrug. Die Bundesliga-Mannschaften suchen den Abschluss also häufiger innerhalb des Strafraums als noch vor sechs Jahren. Sie sind ungefähr einen Meter näher an das gegnerische Tor herangerückt.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in der englischen Premier League erkennen. 2017/2018 schossen die Teams durchschnittlich noch aus 16,5 Metern in Richtung Tor. Auch dort arbeiteten sich die Teams kontinuierlich an den Strafraum heran. In der Saison 21/22 lag die Entfernung nur noch bei 15,9 Metern, in der laufenden Spielzeit sogar nur bei 15,5 Metern im Schnitt (Stand: 30. Spieltag). Es spricht vieles dafür, dass die Einführung und Arbeit mit „expected goals“ einen Einfluss auf das Schussverhalten haben. In welchen Räumen ist die Torgefahr hoch? Wo bringt man die Angreifer am besten in Positionen? Diese Fragen werden mithilfe dieses Modells eruiert.

Entwicklung des Schussverhaltens in der Bundesliga/Premier League 17/18 und 21/22

Entwicklung der Schussentfernung
Datengrundlage: Bundesliga-Datenlieferant „Opta“ (2017-2023). Ausgewertet wurde die durchschnittliche Schussentfernung aller Bundesligisten. Grafik: eigene Darstellung
Zurück zu den Bundesliga-Daten: Auffallend ist auch, dass sich insbesondere die Mannschaften mit hoher individueller Qualität bis in den Sechzehner vorspielen, um dort den Abschluss zu suchen. Der FC Bayern und Borussia Dortmund haben seit 2017 regelmäßig die geringste Schussentfernung. Diese liegt bei etwas mehr als 15 Metern. Das kann unterschiedliche Gründe haben: Einerseits ist die Arbeit mit Daten in diesen Vereinen schon längst ein elementarer Bestandteil. Andererseits ist auch die Spieler-Qualität deutlich höher als bei „kleineren“ Vereinen. Dadurch können sich Spitzenteams einfacher durch Abwehrreihen spielen. Sie kombinieren sich dann bis in den Strafraum, um dort eine optimale Schussposition zu finden.

Abstiegskandidaten mangelt es an Schussqualität

Tabellenübersicht Schüsse und xG in der Bundesliga-Saison 2022/23

Differenz Schuss- und xG-Tabelle

Datengrundlage: Bundesliga-Datenlieferant „Opta“. Aus der Schuss- und xG-Tabelle wurde die Tabellendifferenz errechnet. Grafik: eigene Darstellung. Erstellt mit Datawrapper.

Anders sieht es bei den Abstiegskandidaten aus. Der VfB Stuttgart belegte in der Bundesliga-Saison 2022/23 den letzten Tabellenplatz und war acht Spieltage vor Schluss akut abstiegsgefährdet. Die Diskrepanz zwischen der Anzahl von Schüssen im Vergleich zur Qualität war bemerkenswert. Bei den reinen Abschüssen lag der VfB auf einem guten vierten Platz (355 Schüsse). Bei den „expected goals“ war Stuttgart nur Zwölfter (33,3 xG). Die Württemberger schossen also oft auf den gegnerischen Kasten, waren aber nicht gefährlich genug. Bei keinem anderen Bundesligisten der Saison 2022/23 unterschieden sich Quantität und Qualität der Abschlüsse so stark.

Eine ähnliche Kluft wies auch Schalke 04 auf, die in der Bundesliga-Saison 2022/23 den vorletzten Platz belegten. In der Schusstabelle rangierten die Königsblauen auf dem achten Platz (319 Schüsse). Zieht man die Qualität der Torschüsse mittels „expected goals“ heran, rutscht Schalke jedoch auf den 15. Rang ab (29,2 xG). Auch die weiteren Abstiegskandidaten der Saison, Hertha BSC und VfL Bochum, weisen ein negatives Verhältnis von Torschussquantität und -qualität auf. Die Top-Teams Bayern, Dortmund und Leipzig führen wiederum die Schuss- und xG-Tabelle an. Es gibt damit keine Differenz zwischen der Häufigkeit und der Qualität von Torschussversuchen.

„Expected goals“ werden Torschussstatistik ablösen

Mithilfe der „expected goals“ lassen sich Fußball-Trends gut erklären. Es gibt weniger Weitschusstore, die durchschnittliche Schussentfernung sinkt und auch individuelle Qualitätsunterschiede zwischen Spielern respektive Mannschaften sind ablesbar. Mittelfristig könnte der xG-Wert die einfache Torschussstatistik ablösen. „Expected goals“ dienen als Erklärungsansatz dafür, warum eine Mannschaft z.B. gerade einen Negativlauf hat: Sind die erspielten Torchancen qualitativ nicht hochwertig genug oder kommt das Team nicht einmal in gefährliche Abschlusspositionen? Das Modell kann Behauptungen untermauern oder widerlegen – so wie den Mythos der „hundertprozentigen Torchance“.

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