Falsch: „300.000 abgelehnte Asylbewerber erhalten volle Sozialleistungen.“

von Quyen Do und Joline Wiehe

aus dem Modul "Schwerpunkt Journalismus: EUfactcheck"

Der Beitrag ist im Rahmen des EUfactchecks entstanden, und ist ein Projekt der European Journalism Training Association (EJTA). Studierende und Lehrende sind hierbei Teil eines internationalen Netzwerks von Journalismus-Hochschulen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit verantwortungsbewusster Recherche nach gemeinsamen Regeln gegen Desinformation vorzugehen. Bitte beachten Sie, dass der Stand der Recherche zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im November 2023 liegt, wodurch Informationen veraltet sein könnten. Lesen Sie hier auch einen kommentierenden Beitrag mit Andrea Kothen, Referentin bei Pro Asyl. Der Beitrag beleuchtet die Auswirkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes auf das Leben von Asylsuchenden.

Friedrich Merz, Bundesvorsitzender der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), sagte in einem Interview in der Fernsehsendung „Welt Talk“: „Die Leute drehen durch, wenn sie sehen, dass 300.000 abgelehnte Asylbewerber, die das Land nicht verlassen, die vollen Leistungen bekommen, die vollen Sozialleistungen bekommen.“ Nach Überprüfung der Fakten stellt sich heraus, dass die Aussage von Merz falsch ist.

Hohe Zahl von Asylsuchenden in Europa und Deutschland

In den vergangenen Jahren ist das Thema Asylsuchende in Europa immer mehr in den Vordergrund gerückt und hat eine zunehmende Präsenz erfahren. Im Jahr 2022 war Deutschland mit insgesamt 243.835 Asylanträgen sogar das beliebteste europäische Zielland für Asylsuchende, gefolgt von Frankreich, Spanien und Österreich. Diese Entwicklung ist umstritten und es gibt immer wieder kritische und teilweise unhaltbare Äußerungen von Politikern zu Asylbewerbenden und deren Leistungsanspruch, die von der Presse aufgegriffen werden. In Deutschland sorgte die Aussage von Friedrich Merz (CDU) in der Fernseh-Talkshow „Welt Talk“ am 27. September 2023 für Kontroversen: „Die Leute drehen durch, wenn sie sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt werden, das Land nicht verlassen, die vollen Leistungen bekommen, die vollen Sozialleistungen bekommen.“ Da er keine eindeutigen Quellen für seine Aussage nannte, ist ein Faktencheck notwendig.

Faktencheck: Friedrich Merz und die Zahl der abgelehnten Asylbewerber

Zunächst spricht Friedrich Merz in seiner Stellungnahme von einer Zahl von 300.000 abgelehnten Asylbewerbern. Ein Sprecher des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gab an, dass am 31. Dezember 2022 insgesamt 304.308 Geflüchtete registriert worden seien, von denen 248.145 einen Duldungsstatus erhalten hätten. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Geflüchteten eine Duldung hat und weiterhin in Deutschland bleiben darf. Aber wir müssen uns die Zahlen genauer ansehen. Nach § 50 des deutschen Aufenthaltsgesetzes sind Menschen, die keine erforderliche Aufenthaltserlaubnis haben, zur Ausreise verpflichtet. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, zum Beispiel, wenn der vorübergehende Schutzstatus beendet wurde, das Visum oder die Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis falsche Angaben gemacht wurden oder der Asylantrag abgelehnt wurde. Die Definition der Ausreisepflicht umfasst abgelehnte Asylbewerber, aber auch andere Personengruppen mit unterschiedlichen Gründen für die Ausreise. Die tatsächliche Zahl der Geflüchteten mit abgelehntem Asylantrag lag zum 31. Dezember 2022 bei 167.848 Personen und damit deutlich niedriger als von Merz angegeben. Dies geht aus der „Drucksache 20/5870“ des Deutschen Bundestages hervor. Laut der Drucksache wurden bis Ende 2022 insgesamt 78.799 Personen als abgelehnte Asylbewerber registriert. Friedrich Merz hat die drei Definitionen “Geflüchtete, abgelehnte Asylbewerber und abgelehnte Asylbewerber mit Ausreisepflicht” verallgemeinert. Die von Merz genannte Zahl der abgelehnten, ausreisepflichtigen Asylbewerber ist daher falsch.

Leistungen für Asylbewerber nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

In Deutschland sind die Leistungen, die Asylsuchende erhalten, im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Neben dem Anspruch auf Sozialhilfe in Absatz 1, den Leistungen in besonderen Fällen in Absatz 2 und den Grundleistungen in Absatz 3 regelt das Asylbewerberleistungsgesetz in Absatz 4 die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt. Nach Absatz 1 des Paragrafen werden notwendige ärztliche und zahnärztliche Behandlungen nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen gewährt. Ausnahmen gibt es nur in besonderen Fällen, wie in Absatz 2 beschrieben. Danach haben Leistungsberechtigte, die sich seit 18 Monaten ununterbrochen in Deutschland aufhalten, abweichend vom AsylbLG Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nach dem Neunten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches. Insbesondere das fünfte Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch regelt die Hilfen in gesundheitlichen Angelegenheiten bei Sozialhilfeleistungen.

§ 4 AsylbLG, Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/asylblg/BJNR107410993.html

Herausforderungen bei der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern

Im Gespräch mit Andrea Kothen, Referentin bei Pro Asyl e. V., wird deutlich, dass vorwiegend Flüchtlinge, die von den Grundleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) erfasst werden, Schwierigkeiten haben, medizinische Leistungen zu erhalten. In der Praxis gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen abgewiesen werden, nur Aspirin oder Tee bekommen und nicht zu dem Facharzt gehen können, den sie benötigen.

Andrea Kothen bestätigt, dass Asylbewerber und Geduldete, die im Asylverfahren abgelehnt werden, dem AsylbLG unterliegen und entweder geringe Grundleistungen erhalten oder nach 18 Monaten grundsätzlich Anspruch auf sozialhilfeähnliche Leistungen nach § 2 AsylbLG haben. Obwohl sie nicht krankenversichert sind, erhalten sie medizinische Leistungen, die mit denen der gesetzlich Versicherten vergleichbar sind. Laut Andrea Kothen fallen anerkannte Flüchtlinge aufgrund ihres Schutzstatus nicht mehr unter das AsylbLG und erhalten Bürgergeld oder Sozialhilfe.

Das bedeutet, dass abgelehnte Asylbewerber keinen Anspruch auf mehr Leistungen haben als Sozialhilfeempfänger. Dies gilt allerdings erst nach 18 Monaten Aufenthalt in Deutschland. Asylbewerber, die noch unter die Grundleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen, sind bei der medizinischen Versorgung deutlich benachteiligt, da sie nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzen Leistungen erhalten.

Nach einer erfolglosen Anfrage beim Statistischen Bundesamt konnte die Zahl der abgelehnten Asylbewerber mit einer Aufenthaltsdauer von mehr als 18 Monaten, die zur Ausreise verpflichtet waren, nicht ermittelt werden.

Kosten für die Behandlung von abgelehnten Asylbewerbern: Informationsmangel

Da für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Bund und Länder zuständig sind, wurde das Niedersächsische Landesamt für Statistik um Informationen über die Zahl der Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die Kosten für die Behandlung abgelehnter Asylbewerber gebeten.

Das Niedersächsische Landesamt für Statistik konnte die Ausgaben und Einnahmen der kommunalen Träger für das AsylbLG nur bis zum Jahr 2021 zur Verfügung stellen. Die Ausgaben für das Jahr 2021 beliefen sich auf 421.460.978 Millionen Euro. Im Vergleich dazu wurden im Jahr 2021 in Niedersachsen 19.029 Asyl-Erst- und Folgeanträge gestellt.

Ausgaben und Einnahmen Niedersachsens nach Regionen zum Stichtag 31.12.2021, Quelle: https://www1.nls.niedersachsen.de/statistik/default.asp

Das Land Niedersachsen verfügt über keine aktuelleren Daten zur Zahl der Leistungsempfänger als die des Jahres 2019. Dem Datensatz zufolge erhielten im Jahr 2019 103.910 Menschen Leistungen. Das Niedersächsische Landesamt betont, dass abgelehnte Asylbewerber in der Statistik nicht enthalten sind.

Anzahl an Empfängerinnen und Empfänger von regulären AsylbLG-Leistungen von den Kommunen (Aufteilung nach Wohnorten) nach Geschlecht (Verwaltungseinheit), Stichtag 31.12.2019 Quelle: https://www1.nls.niedersachsen.de/statistik/html/default.asp

Aufgrund dieser unvollständigen Informationen wurden weitere Anfragen an die zuständigen Behörden gestellt, darunter das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Statistische Bundesamt und das Bundesministerium für Gesundheit. Alle drei Behörden bestätigten, dass es keine Informationen über die Kosten für die Behandlung abgelehnter Asylbewerber gibt.

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Merz drei Definitionen miteinander vermischt hat. Die Zahl der abgelehnten und ausreisepflichtigen Asylbewerber ist deutlich geringer, als Merz behauptet. Nach § 4 des AsylbLG erhalten Asylsuchende nicht die vollen Leistungen oder die volle Sozialhilfe. Im Gegenteil: Wenn sich Asylbewerber und abgelehnte Asylbewerber weniger als 18 Monate in Deutschland aufhalten, sind sie sogar bei der medizinischen Versorgung benachteiligt. Die Aussage „Die Leute drehen durch, wenn sie sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt werden, das Land nicht verlassen, volle Leistungen und volle medizinische Versorgung erhalten“ von Friedrich Merz hat sich nach sorgfältiger Prüfung durch den Faktencheck als falsch erwiesen.

Autor*in: